Syrien: Neues Aufflammen des Bürgerkrieges
Seit dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hisbollah flammt der Bürgerkrieg in Syrien erneut auf. Ein islamistisches Bündnis verschiedener Streitkräfte versucht, die Herrschaft des Diktators Assad zu untergraben. Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS; Komitee zur Befreiung der Levante), Nachfolger der al-Nusra-Front (später umbenannt in Dschabhat Fath asch-Scham; Front für die Eroberung der Levante), hat in den letzten Tagen immer mehr Gebiete von Idlib (Edleb) aus unter seine Kontrolle gebracht. Am Samstag rückten seine Kämpfer:innen sogar in die zweitgrößte Stadt Syriens, Aleppo, vor.
Viele Menschen aus der Zivilbevölkerung sind erleichtert über die Schwächung der Armee und des Machtapparats von Assad. Die Aggression des Assad-Regimes gegen Aleppo war brutal: Tausende wurden verhaftet und jahrelanger Folter in überfüllten Gefängnissen ausgesetzt. Zehntausende wurden getötet, weit mehr Menschen vertrieben und leben seither in riesigen Flüchtlingslagern unter prekären Bedingungen in Zelten. Mit Unterstützung der russischen Luftwaffe zerstörte Assad Aleppo großflächig.
Wer ist HTS?
HTS wurde im Jahr 2017 als Reaktion auf die Friedensgespräche zwischen der Türkei, dem Iran und Russland in Astana (Hauptstadt Kasachstans) gegründet. Diese Gespräche führten zu begrenzten Waffenstillständen und Machtaufteilungen, die eine teilweise Stabilisierung der von Assad kontrollierten Gebiete bewirkten. Die Führer:innen von HTS lehnen solche Verhandlungen jedoch strikt ab, solange sie nicht den Rücktritt des Diktators Assad beinhalten. Obwohl der Gruppe in den Medien eine Verbindung zur al-Qaida (Organisation der Dschihadbasis) vorgeworfen wird, hat sich HTS seit 2017/2018 offiziell von dieser Organisation getrennt und von ihr distanziert. In öffentlichen Stellungnahmen des HTS-Führers wird zunehmend ein nationalistisches Bekenntnis deutlich. HTS kann als islamistische, dschihadistische Gruppe eingeordnet werden, die sich jedoch zunehmend in Richtung einer stärker nationalistisch geprägten Ausrichtung entwickelt. Der Wandel weg vom internationalen Dschihadismus, der nationale Grenzen nicht anerkennt, hin zu einer politischeren Interpretation des Islams wird unter anderem daran deutlich, dass die Sprecher:innen der HTS sich als legitime politische Akteur:innen präsentieren. Sie fordern die Streichung ihrer Organisation von internationalen Terrorlisten, um eine Grundlage für Verhandlungen zu schaffen.
HTS wird dabei unter anderem von der Türkei unterstützt. Es ist gut möglich, dass die Türkei sogar grünes Licht für diese Operation gegeben hat, da sie die Situation geschickt zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen nutzen kann. Der Grenzübergang von Idlib in die von türkischen Milizen kontrollierten Gebiete bei Bab al-Hawa bleibt weiterhin offen und verhindert eine vollständige Isolation Idlibs.
Türkei
Gleichzeitig intensivieren türkische Milizen ihre Angriffe auf die kurdische autonome Region Rojava. Präsident Erdoğan versucht, das aktuelle Machtvakuum zu nutzen, um die Kurd:innen so weit wie möglich zu schwächen. Zudem bietet eine mögliche Zusammenarbeit mit den Rebell:innen der HTS Erdoğan ein Druckmittel gegenüber Assad. Die jüngsten Annäherungen zwischen Ankara und Damaskus lassen vermuten, dass er selbst die HTS aber auch nur als Mittel zum Zweck betrachtet und diese nur unterstützt, damit Assad ihm ein besseres Angebot macht.
Sollte es zu einer solchen Übereinkunft kommen, ist abzusehen, dass von Assad die Kurd:innen geopfert werden und die Türkei ihre Ziele weiter verfolgen kann. Es ist gut möglich, dass ein Großteil der Geflüchteten in der Türkei in diese Gebiete abgeschoben bzw. getrieben wird. Dies würde eine Rückkehr in ein Kriegs- und Krisengebiet bedeuten, geprägt von Hunger, zerstörter Infrastruktur und kaum nutzbarem Wohnraum. Auf diese Weise könnte die Türkei mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie würde die Geflüchteten abschieben, freie Hand gegen Rojava erhalten und gleichzeitig ihre eigene geostrategische Position stärken. Assads Armee hat sich zurückgezogen und wird vermutlich versuchen, ihre Kräfte neu zu bündeln, um in naher Zukunft einen Gegenschlag gegen die Aufständischen zu starten.
Warum passiert das gerade jetzt?
Dass diese Operation gerade jetzt durchgeführt wurde, ist nicht von den internationalen Entwicklungen zu trennen. Die Kräfte, die Assad blutig an der Macht halten konnten – Iran, darunter vor allem die Hisbollah, und Russland – sind derzeit anderweitig gebunden. Russland hat seit Beginn des Krieges in der Ukraine vermehrt Bodentruppen aus Syrien abgezogen. Die Hisbollah, die ebenfalls massiv zur Stabilisierung von Assads Regime beigetragen hat, wurde durch den jüngsten Krieg zwischen Israel und dem Libanon stark geschwächt. Assad hat seit 2017 Schwierigkeiten, seine militärischen Reihen zu stabilisieren. Derzeit befindet er sich in Russland, was vermutlich mit ein Grund dafür ist, dass dieses Aleppo erneut durch Luftangriffe in Schutt und Asche legen lässt.
HTS, das sich aktuell nach Süden bewegt, wird spätestens in Homs auf die Streitkräfte Assads treffen. Homs, die drittgrößte Stadt Syriens, ist nicht nur ein strategisch bedeutender Stützpunkt, sondern auch der Standort der militärischen Akademien des Landes.
Was kann passieren?
Die aktuellen Entwicklungen machen zwei Dinge besonders deutlich:
- 1. Der Bürgerkrieg in Syrien hat niemals wirklich geendet, sondern schwelt weiter im Verborgenen. 2. Ein Großteil der Bevölkerung sehnt den Sturz Assads herbei.
Dass sich der drusische Scheich aus Suweida im Südwesten Syriens mit den Rebell:innen solidarisiert hat, ist kaum überraschend. Die drusischen Gemeinden protestieren bereits seit über einem Jahr immer wieder gegen das Assad-Regime und fordern Veränderungen. Das Vermächtnis der Revolution in Syrien von 2011 ist noch immer lebendig, doch ihre Wiederbelebung gestaltet sich schwieriger denn je.
Welche Position sollten Revolutionär:innen angesichts dieses Aufflammens des syrischen Bürgerkriegs einnehmen? Sicherlich gibt es keinen Grund, sich zu wünschen, dass Haiʾat Tahrir asch-Scham Assad durch irgendeine Art von islamischem Regime ersetzt. Aber wenn ihre Koalitionskräfte das Regime in die Enge treiben, könnte dies den Menschen in den Städten Syriens und den zurückkehrenden Flüchtlingen Raum geben, den Kampf für Demokratie und Rechte der Arbeiter:innenklasse wieder aufzunehmen, an den Erfahrungen des Arabischen Frühlings anzuknüpfen und den Kampf gegen die Diktatur mit dem für den Sozialismus zu verbinden.
Doch dabei stehen wir verschiedenen Problemen gegenüber. Eine Komplikation besteht darin, dass nicht nur die Regierung Assad an den russischen Imperialismus und den Iran gebunden ist, sondern umgekehrt die syrische Opposition zumindest teilweise auf die Türkei und den Westen hofft. Das trifft auch auf Rojava zu, wo US-Truppen bis heute stationiert sind. Natürlich sollten die Kurd:innen von Rojava, die behaupten, eine demokratische und feministische Gesellschaft aufzubauen, auf der Seite derer stehen, die die Assad-Diktatur stürzen wollen. Und die syrischen Rebell:innen sollten das kurdische Recht auf Selbstbestimmung verteidigen. In dieser Hinsicht haben jedoch beide versagt. Tatsächlich ist dies ein Produkt des Fehlers aller Formen des Nationalismus, selbst desjenigen der gegenwärtig oder kürzlich Unterdrückten.
Zugleich zeigt sich auch deutlich, dass jene Kräfte, die eine sozialistische und proletarische Perspektive verfolgten, selbst eine zentrale Aufgabe in jedem Bürger:innenkrieg nicht oder nur ungenügend in Angriff genommen haben: den Aufbau eigener bewaffneter Kräfte – von Selbstverteidigungskräften und Arbeiter:innenmilizen, die selbst zu einem Faktor in der Auseinandersetzung hätten werden können.
Diese Widersprüche können nur von einer Führung endgültig und dauerhaft überwunden werden, die auf proletarischem Internationalismus beruht und für die gleiche demokratische Rechte für unterdrückte Nationalitäten, Frauen, Arbeiter:innen und alle Religionen Stufen zu einem sozialistischen Syrien innerhalb der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens sind. Die können nur überwunden werden, wenn all jene, die eine solche Perspektive anstreben, selbst im Untergrund und im Kampf darangehen, eine revolutionäre Arbeiter:innenpartei aufzubauen.
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