Statement vom Arbeitskreis Asyl Göttingen 03.April 2020

https://www.dw.com/de/corona-griechenland-stellt-fl%C3%BCchtlingslager-unter-quarant%C3%A4ne/a-52992666

http://www.anwaltskanzlei-adam.de/index.php?id=36,1510,0,0,1,0)

Pressemitteilung und Statement vom Arbeitskreis Asyl Göttingen 03.April
2020
Die (lebens)gefährliche Situation für Geflüchtete in Massenunterkünften
sowohl hier, als auch auf den griechischen Inseln und anderswo.
Angesichts politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen in
Deutschland und anderen EU-Staaten, in denen Konkurrenz,
Gesetzesverschärfungen, Überwachung, Kontrolle, Autoritarismus,
Rassismus und Faschisierung immer offener ausgetragen und sichtbarer
werden, macht die aktuelle Corona-Krise all diese Dynamiken nur noch
deutlicher.
Je nach ökonomischem Interesse werden Grenzen geschlossen – oder nun für
Erntearbeiterinnen doch begrenzt geöffnet? – die Freiheit von Menschen beliebig eingeschränkt; Versammlungen werden unterbunden und Kontakte untereinander überwacht; Bewegungsprofile von Personen werden erstellt – und all das ganz zur „Sicherheit der (weißen) europäischen Bevölkerung“. Vieles wird in Bewegung gesetzt, um die Verbreitung von Covid-19 zu unterbinden und einen Umgang damit zu finden. Doch wem soll dieser Schutz und die Sicherheit gelten und wieviele Menschen werden dabei von der Regierung und der Gesellschaft vergessen und außer acht gelassen? Millionen von Menschen sitzen weltweit in riesigen Geflüchtetencamps wie in Lybien, in Gefängnissen wie in der Türkei, in Lagern wie in Moria auf Lesbos oder in Massenunterkünften wie auch hier in Göttingen fest. All diese Orte mit ihren miserablen und menschenverachtenden Lebensbedingungen werden aktiv von der Bundesregierung (mit)getragen – in dem Wissen um die Unmöglichkeit der Einhaltung von Maßnahmen, die eine Covid-19-Katastrophe an diesen Orten verhindern könnten. Während für deutsche Bürgerinnen alles mögliche
unternommen wird, werden all die Menschen an den aufgezählten Orten
(bewusst) nicht gehört und gesehen – trotz der lautstarken
Widerstandsrufe.
Ende Februar gab es viel Aufmerksamkeit für die Lage an der
türkisch-griechischen Grenze, nachdem Erdogan den EU-Türkei-Deal
aussetzte und Geflüchtete an der Grenze nach Griechenland – der
EU-Außengrenze – aus machtpolitischen und strategischen Gründen nicht
mehr zurückgehalten hat. Die Situation an der Grenze war und ist noch
immer erschütternd und geprägt von ausufernder Entrechtung, Gewalt und
Rassismus.
Griechische Grenzbeamtinnen, deutsche Polizistinnen des
EU-Grenzschutzes (Frontex etc.) wehren Geflüchtete brutal ab und es
werden Schusswaffen eingesetzt, wobei mehrere Menschen von der
griechischer Grenzpolizei erschossen und dutzende Menschen schwer
verletzt wurden. Inzwischen hat die türkische Polizei ihre Taktik
geändert: Lager von Fliehenden vor der griechischen Insel wurden in
Brand gesetzt und die Menschen in überfüllten Abschiebegefängnissen
zusammengepfercht.
Griechenland setzt das Asylrecht mit Ansage aus; das heißt seit dem
ersten März können Neuankommende keinen Antrag mehr stellen. Dies
bedeutet, dass ankommende Menschen sofot inhaftiert, auf einem
Kriegsschiff oder an den Stränden wochenlang eingepfercht werden. Es
werden massenhaft gewaltvolle und zudem illegale (wen interessiert Recht
und Gesetz schon noch?!) Pushbacks durchgeführt.
Hinzu kommen Angriffe von Faschistinnen auf ankommende Menschen, auf Boote, auf solidarische Aktivistinnen und Strukturen. Europaweite
Aufrufe von Nazis wurden laut, insbesondere der Identitären Bewegung
(IB), nach Griechenland zu reisen, um „die europäischen Außengrenzen zu
verteidigen“.
Man sollte meinen, dass solche Situationen bei Menschen Wut auf die
Tatenlosigkeit der europäischen Regierungen oder Erschütterung über die
Missachtung von Grund- und Menschenrechten durch EU-Beamtinnen auslösen. Aber nein! Die EU bewilligt 700 Millionen Euros, um Griechenland im sogenannten“Grenzschutz“ zu unterstützen und lobt zudem noch die europäische Abschottung durch seine Grenzschützerinnen
(EU-Kommissions-Präsidentin von der Leyen). Und wofür? Für Gewalt,
Rassismus, Mord!
Seit bald zwei Wochen werden die Geschehnisse an der
türkisch-griechischen Grenze und an vielen anderen Orten in den
Mainstream-Nachrichten jedoch nur noch von Corona überdeckt. Dabei
müsste gerade die Ausbreitung des Covid-19-Virus stark in Zusammenhang
mit dem in alter Tradition von Deutschland und der EU betriebenen
Lagersystem gebracht werden. Denn dieses ist und wird nun in
Corona-Zeiten immer gefährlicher bis tödlich!
Im Camp Moria auf Lesbos werden Menschen nun abgeriegelt, NGOs
abgezogen, die basale Versorgung mit z.B. ausreichend Wasser
eingeschränkt. Es gibt keine Quarantänemöglichkeiten und 20 000 Menschen
werden auf engstem Raum unter hygienisch katastrophalen Bedingungen sich
selbst überlassen – obwohl selbst in den Medien schon von einem
potentiellen „Massensterben“ gesprochen wird. Im Lager Ritsona bei Athen
wurden z.B. bereits 21 Covid-19-Fälle nachgewiesen und das Lager wurde
einfach abgeriegelt
(https://www.dw.com/de/corona-griechenland-stellt-fl%C3%BCchtlingslager-unter-quarant%C3%A4ne/a-52992666).
Angesichts der verschärften Lage durch den Covid-19-Virus ist die
Unterbringung von Menschen in Lagern und Massenunterkünften
unverantwortlich und widerspricht jeglichen Schutzmaßnahmen, die nun
seit Wochen allen Bürger*innen tagein tagaus eingeimpft werden- hier
wird deutlich, für wen all diese Schutzmaßnahmen gelten sollen und wer
dabei hinten runter fällt oder gar vergessen wird.
Auch hier in Göttingen gibt es eine Reihe an Massenunterkünften, welche
auch unter diesen angespannten Verhältnissen weiter betrieben werden.
Betreiberinnen der Camps in Göttingen sind die Johanniter, das Deutsche Rote Kreuz (DRK) und Bonveno. Zu einigen der Unterkünfte wurde Kontakt aufgenommen und mit Bewohnerinnen gesprochen, um zu erfahren, wie es
den Menschen dort geht, wie Betreiber*innen mit Schutzmaßnahmen umgehen
und Verantwortung übernehmen und ob es bereits Corona-Fälle oder
Menschen, die in die Risikogruppe fallen, gibt. Die Erkenntnisse waren,
wie zu erwarten, ernüchternd bis erschreckend. So müssen sich Menschen
in einigen Unterkünften noch immer zu viert ein Zimmer teilen; es gibt
teilweise Gemeinschaftsduschen und -küchen, die von mehr als zehn
Personen genutzt werden, sowie oftmals kaum Zugang zu notwendigen
Informationen oder ausreichend Desinfektionsmittel.
Während wir alle jeden Tag aus allen öffentlichen Kanälen gesagt
bekommen, wir sollen Abstand halten, soziale Kontakte reduzieren oder
zuhause bleiben, kann aufgrund dieser strukturellen Bedingungen, all das
von tausenden Menschen nicht eingehalten werden, weil sie nicht die
Chance dazu bekommen. Gleichzeitig stehen überall in Europa, in
Deutschland und so auch hier in Göttingen unzählige Hotels, Hostels und
Jugendherbergen leer, die genutzt werden könnten, um all diese
Schutzmaßnahmen zu gewährleisten. Menschen in Lagern unterzubringen ist
auch ohne Corona eine strukturelle Diskriminierung; in der aktuellen
Situation ist es völlig verantwortungslos und nicht hinnehmbar.
Wir beziehen uns mit diesem Statement auch auf andere, vorausgegangene
Statements und Aufforderungen an die Stadt Göttingen endlich aktiv zu
werden und Menschen aus den Massenunterkünften zu evakuieren und
vorhandene Kapazitäten zu nutzen! Unter anderem von Rechtsanwalt Sven
Adam (siehe:
http://www.anwaltskanzlei-adam.de/index.php?id=36,1510,0,0,1,0), Pro
Asyl
(https://www.proasyl.de/news/covid-19-und-fluechtlingspolitik-was-deutschland-jetzt-machen-muss/)
sowie die „Forderungen für Sofortmaßnahmen an den Rat der Stadt
Göttingen in Zeiten der Corona-Pandemie“ durch das solidarische
Hausprojekt OM10 (https://omzehn.noblogs.org/?p=1546).
Für deutsche Tourist*innen wird derzeit das größte Rückholprogramm der
deutschen Geschichte durchgeführt, das Millionen Euros kostet und
Menschen aus aller Welt zurück nach Deutschland holt. Währenddessen
werden Resettlement-Programme wegen der Pandemie ausgesetzt und die EU
und die Bundesregierung schaffen es nicht, eine lächerliche Zahl von
1500 Menschen aus den griechischen Lagern (wie zugesagt!) zu evakuieren
und unter menschenwürdigen Bedingungen wohnen zu lassen; geschweige denn
im eigenen Land Menschen zu evakuieren und menschenwürdige
Unterbringungen in so prekären Zeiten bereitzustellen!
Shame on you, Germany. Shame on you, EU!
Wir fordern, alle Geflüchtetencamps und Massenunterkünfte sofort zu
evakuieren – in Griechenland, in Göttingen und überall! Es gibt genug
Platz und Ressourcen, um Menschen hier aufzunehmen und unter würdigen,
sicheren Bedingungen dezentral, statt in Lagern unterzubringen.
Wohnungsleerstand und Hotels müssen genutzt werden. Geldleistungen
müssen für 3 Monate im voraus ausgegeben werden.
Mehr Infos zur aktuellen türkischen Inhaftierung der Menschen und dem
Abbrennen der Zeltstädten an der Grenze:
https://twitter.com/crossbordersol1/status/1243898860336025600
https://greekcitytimes.com/2020/03/27/turkish-authorities-set-fire-to-camp-on-evros-border-to-force-illegal-immigrants-to-leave/?amp