Göttingen: Protestbrief zur menschenunwürdigen Flüchtlingsunterbringung


Email: Wohnungen-fuer-alle@riseup.net

An:

Oberbürgermeister
Rolf-Georg Köhler
Neues Rathaus
Hiroshimaplatz 1-4
37083 Göttingen

Offener Brief zur unmenschlichen Flüchtlingsunterbringung in Göttingen

                            Göttingen, den 29.5.2019

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Köhler,
Sehr geehrte Frau Sozialdezernentin Broistedt,

im Namen vieler Geflüchteter in Göttingen und insbesondere der aktuellen Bewohner*innen der verschiedenen Flüchtlingsunterkünfte wenden wir uns mit diesem Brief aus einem sehr konkreten und dringenden Anliegen an Sie. Wir wenden uns an Sie, weil keine verantwortliche Institution unsere Nöte und Probleme einsehen, geschweige denn lösen, möchte.

Seit nunmehr einem Jahr hat die Stadt beschlossen, die gefängnisartige Massenunterkunft Siekhöhe zu schließen. Sie haben offensichtlich eingesehen, dass diese Art der Unterbringung unserer Würde als Menschen nicht gerecht wird. Doch nun ist ein Jahr vergangen – ein Jahr, in dem die Unterkunft Schützenanger bereits unbewohnbar und geschlossen wurde, und wir stellen uns die Frage: Was hat die Stadt, was haben Sie getan, um uns eine bessere Unterkunft als die Siekhöhe zu schaffen?

Neben dem Lager Siekhöhe betreibt die Stadt Göttingen auch neuere Unterkünfte, u.a. in der Hannah-Voigt-Straße, der Carl-Gieseke-Straße und der Europaallee. Teilweise wurden diese Unterkünfte wohlgemerkt neu gebaut und gelten als Modelle, wie es richtig zu machen sei. Doch auch hier müssen wir leider feststellen, dass für uns menschenwürdige Lebensbedingungen nicht vorgesehen sind. In den Wohnungen werden bis zu sechs Personen auf drei kleine Zimmer verteilt – natürlich erschwert es da das Leben, wenn wir nicht den gleichen Lebensrhythmus, Religion, Meinungen, Sauberkeitsvorstellungen u.v.m. haben, wie unsere zufällig ausgewählten Mitbewohner*innen. Würden Sie sich ein Zimmer mit einer fremden Person teilen wollen? Wir auch nicht.

Doch die Ungerechtigkeit endet nicht bei den Räumen. Der sogenannte „Sicherheitsdienst“ wird unter uns gefürchtet: es ist bereits mehrmals zu Übergriffen oder Schikanen gekommen, manche von uns haben sogar Verfolgungen bis auf die Toilette beklagt. Auch die Unterkunftsverwaltung ist uns oft nicht wohlgesonnen. Wir sehen uns regelmäßig mit willkürlichen Zimmer- und Wohnungswechseln sowie Kontrollen konfrontiert. Öffnet man nicht zügig nach dem Klopfen die Haustür, wird die Tür aufgeschlossen. Das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 13 GG scheint für uns nicht zu gelten, weil wir als Menschen zweiter Klasse behandelt werden. Die Situation im Heim ist nicht nur unerträglich, sondern sie macht uns krank. Viele von uns kommen nicht mehr zur Ruhe, seit sie in Göttingen wohnen. Viele sind ständig müde, andere sind traurig bis hin zur Depression.

Unsere Lebensbedingungen werden nicht nur durch die Unterbringung in Massenunterkünften erschwert, sondern auch durch unsere regelmäßigen Termine beim Sozialamt und der Ausländerbehörde. In der Ausländerbehörde werden wir unglaublich schlecht und teils extrem rassistisch behandelt, dies ist seit Jahren bekannt und zieht sich bis in die Leitung. Regelmäßig kommt es dazu, dass wir angeschrien und heruntergemacht werden, Beschwerden werden abgewimmelt, wodurch sich manche gar nicht mehr ohne eine deutsche Begleitung dort hin trauen. Aber auch das Sozialamt macht es uns nicht leicht. In Bezug auf die Wohnsituation kommen dort uns teils willkürlich erscheinende Handlungsweisen zum Gelten. Wie kommt es, dass eine geflüchtete Person eine private Wohnung findet und das Sozialamt es dieser Person verbietet dort einzuziehen, in anderen Fällen einer anderen aber erlaubt? Die nach Maß- stäben der Stadt maximale Miete für eine private Wohnung ist zudem unrealistisch niedrig. Findet eine mehrköpfige Familie eine entsprechende Wohnung, scheitert ein Mietvertrag oftmals an Ressentiments seitens der Wohnungsbesitzer*innen, an Regeln seitens der Hausverwaltungen, die im Widerspruch mit den Maßstäben des Sozialamtes stehen – beispielsweise ist es gelegentlich nicht gestattet zu sechst eine Dreizimmerwohnung zu beziehen – oder schlicht an der Willkür des Sozialamtes. Diese Situation hält manche von uns seit Jahren in den Unterkünften gefangen.

Vergangene Woche mussten wir verbittert im Göttinger Tageblatt lesen, dass die Stadt Göttingen nicht vorsieht neuen Wohnraum für uns zu schaffen, weil scheinbar Platz für uns alle da sei. Diese Einschätzung könnte nicht ferner von der Realität sein! Seit Monaten bis Jahren beklagen wir diese unsäglichen Verhältnisse und die Stadtverwaltung erlaubt es sich, diese Situation als akzeptabel darzustellen. Wenn Frau Broistedt von Wohnungsvermittlungen spricht, meint sie wohl Einzugsgenehmigungen, denn bei der Wohnungssuche unterstützen uns die Ämter praktisch nicht. Es wird von Willkommenskultur gesprochen, aber man lässt uns in unzumutbaren Verhältnissen leben.

Wir fordern die Stadtverwaltung Göttingen und Sie persönlich auf, unsere Probleme ernst zu nehmen und sich damit auseinanderzusetzen. Wir fordern dazu:

Sofortige Einstellung jeglicher willkürlicher Kontrollen in den Unterkünften!
Ein Recht auf Beschwerden ohne darauffolgende Schikanierung und Kriminalisierung unseres Protestes!
Schluss mit den Geldausgaben für unsere Isolation in Blockhäusern!
Ein Recht auf menschenwürdiges und privates Wohnen für alle Menschen!
Ein Recht auf selbstbestimmtes Leben!

Wir laden Sie herzlich dazu ein, uns in den Unterkünften zu besuchen und sich ein unabhängiges und neutrales Bild von unserer Lebenssituation zu bilden.

Wir erwarten Ihre baldige Stellungnahme, auf welche Weise Sie für Abhilfe bei den Umständen unserer Unterbringung sorgen werden.

Mit freundlichen Grüßen

die Bewohner*innen der Göttinger Flüchtlingsunterkünfte