Gegen den „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“! Für das Recht auf Bewegungsfreiheit!

Was ist der „Neue Pakt zu Migration und Asyl“ und warum machen wir eine Kampagne dagegen?

—- 31. Mai 2023: Aktueller Stand:Bundesinnenministerin Faeser erklärte am 01. Mai 23, den EU-Kommissionsvorschlägen zum Neuen Pakt dem Grund nach zustimmen zu wollen. Das läuft hinaus auf gefängnisähnliche Lager rings um die EU-Außengrenzen, von denen der allergrößte Teil der Geflüchteten von Frontex-Beamt*innen in angeblich „sichere“ Herkunfts- oder Drittstaaten abgeschoben werden wird. Ein individuelles, im Notfall einklagbares Recht auf Asyl wird dadurch de facto für die meisten Geflüchteten abgeschafft. Alle Parteien der Bundesregierung, also SPD, Grüne, und FDP, tragen die Pläne Faesers mit. Am 08. und 09. Juni soll in Brüssel beim EU-Minister*innenrat die Zustimmung der Bundesregierung offiziell erklärt werden. Wir rufen zum Protest dagegen auf!

Der unten stehende Text wurde im Juli 2022 verfasst, um für die mit dem Neuen Pakt verbundene Aushöhlung der Menschenrechte zu sensibilisieren. Wir haben nicht die Ressourcen ihn komplett zu überarbeiten und lassen ihn daher unverändert stehen. Die Forderungen auf der Postkarte sind immer noch aktuell – auch wenn gegenwärtig anstelle vom Neuen Pakt zu Migration und Asyl meist vom „GEAS“ (Gemeinsamen Europäischen Asyl System) gesprochen wird. Die Vorschläge sind inhaltlich gleich. Für mehr zum aktuellen Stand möchten wir euch verweisen auf

https://fluechtlingscafe-goettingen.com/aufruf-zum-handeln-gegen-die-entrechtung-gefluechteter/

https://aktion.proasyl.de/menschenrechte-verschwinden/#petitionSidebarText

https://www.proasyl.de/news/haftlager-an-den-aussengrenzen-und-abschiebungen-in-drittstaaten-ist-das-die-zukunft/

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Der Vorschlag zum „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“ (wir nennen ihn im folgenden einfach: Pakt) wurde im September 2020 von der EU-Kommission unter Ursula von der Leyen der Öffentlichkeit vorgestellt. Durch ihn sollen, wenn er vom EU-Minister*innenrat einmal verabschiedet werden wird, angeblich die sogenannten „Lasten“ der Flüchtlings- und Asylpolitik innerhalb Europas gleichmäßiger auf die Mitgliedsstaaten der EU verteilt werden. Gleichzeitig werden mit ihm neue Regeln festgeschrieben, wie mit Schutzsuchenden umzugehen ist.

Die EU-Kommission verkauft diesen „Neuen Pakt“ als großen Wurf, der die bei Migrationsthemen sehr zerstritten wirkenden EU-Staaten auf eine gemeinsame Linie bringen soll. Dass er bislang nicht verabschiedet wurde, liegt wohl hauptsächlich an den am offensten rassistisch argumentierenden Staaten in der EU, die jegliche Übernahme von Verantwortung für Schutzsuchende aus dem Globalen Süden verweigern.

Dass der Pakt-Entwurf der Kommission selbst jedoch rassistisch motiviertes Vorgehen in neuen verbindlichen Verträgen festschreiben will, und ein weiterer Schritt zur Abschottung der „Festung Europa ist, bleibt weitgehend ohne Beachtung.

Der Begriff der „Abschiebepatenschaften“ aus dem Pakt-Entwurf der EU-Kommission zeigt das Ausmaß an Menschenverachtung an, das hier sorgsam eingepflegt und sprachlich verhüllt wird. Mit dem an mitmenschliche Solidarität und Fürsorge appellierenden Begriff eines „Paten“ wird bezeichnet, dass besonders rassistisch auftretende regierungen, die Geflüchteten aus dem Globalen Süden Zuflucht verweigern, sich darüber aus ihrer Verantwortung freikaufen, dass sie Abschiebungen finanzieren.

Obwohl die französische Ratspräsidentschaft viele Schritte unternahm, die Einigung über den Pakt voranzutreiben, und dabei viele der bereits Abschottung forcierenden Teile noch mehr gegen Geflüchtete verschärfte, gab es bislang keinen „Erfolg“ dafür. Wie schnell es zur Verabschiedung kommen kann, ist aktuell unklar (Wochen oder Monate oder ?). Für die deutsche Verhandlungsposition ist die Bundesinnenministerin Nancy Faeser zuständig. Deshalb richtet sich auch die Postkarte an sie als Adressatin mit der Aufforderung, diesen Pakt nicht zu unterschreiben.

Am 08. Juni 2022 wurde bekannt, dass die französische Ratspräsidentschaft noch einmal eine Schippe Rassismus obendrauf gelegt hat, um zu Einigungen zu kommen.

Der EU-Oberserver berichtet: „Die, die sich weigern [Geflüchtete aufzunehmen] würden sich stattdessen verpflichten, ‚materielle Solidarität‘ anzubieten wie Grenzüberwachung und Inhaftierungen [von Geflüchteten] oder Geld an die EU-Staaten“ in denen viele Geflüchtete ankommen.

Am 10.06.22 wurde bei der EU-Minister*innenkonferenz beschlossen – mit Zustimmung der Ampelkoalition in Berlin vertreten durch Innenministerin Faeser -, dass ein zentraler Bestandteil des Abwehrpaktes, die Screening-Verordnung, tatsächlich umgesetzt werden soll. Damit wird einer Selektionspaxis für Geflüchtetete der Boden bereitet, die bewirken soll, dass der allergrößte Teil der Geflüchteten von geschlossenen Lagern an den Außengrenzen direkt in Transit- und Herkunftsstaaten abgeschoben werden können. Dass auch die deutsche Regierung damit einmal mehr jegliche Humanität über Bord geworfen hat und sich eindeutig PRO FESTUNG EUROPA positioniert hat, wurde von beinahe sämtlichen Medien und auch der deutschen Öffentlichkeit ignoriert. Dieser Teil des Paktes muss noch im Europaparlament beraten werden, doch ist bisher kaum zu erwarten, dass es hier ernsthaften Widerspruch dagegen geben wird.

Selbst das Massaker von Nador/Mellila am 24.06.2022, bei dem zwischen 23 und 37 Geflüchtete am berüchtigten Grenzzaun von Melilla zu Tode kamen, wurde von EU-Innenkommissarin Ylva Johansson genutz, Werbung für den Neuen Pakt zu machen. Obwohl genau die sogenannte Externaliserung – nach-Außen-Verlagerung der europäischen Grenzen – mit der Indienstnahme marokkanischer Grenzschützer in Zusammenarbeit mit denen Spaniens zum Tod der Geflüchteten geführt hat.

Es ist wichtig zu wissen, dass der Pakt-Entwurf der EU-Kommission in großen Teilen auf Vorlagen aus dem damals noch von Horst Seehofer geführten Innenministerium hervorging. Der ließ ’seine‘ Ministerialbeamtem die Vorstellung von der „Migration als Mutter aller Probleme“ – wie Seehofer seinen Rassismus einmal auf den Punkt brachte – auf allen Ebenen in den Entwurf einschreiben.

Und ebenfalls wichtig zu wissen ist, dass Ursula von der Leyen (CDU) als höchste Vertreterin der EU-Kommission ihre Bereitschaft aufs Völkerrecht zu scheißen vor aller Welt und der EU-Bürokratie öffentlich bekundete, als sie im März 2020 sagte, Griechenland sei „der Schutzschild Europas“ während die griechischen Grenzschützer*innen und Vigilantes gegen Geflüchtete mit militärischen Mitteln vorgingen. Damit gab die Kommisionsvorsitzende den systematischen Verstößen von EU-Staaten im Krieg gegen Geflüchtete am Beispiel Griechenlands ihren Segen. Seither haben die systematischen Verstöße gegen Flüchtlingsrechte sowohl von einzelnen EU-Staaten wie auch durch EU-Agenturen ein noch höheres Ausmaß erreicht als zuvor.

(fehlt noch: Frontex: Leggeri als Bad Guy/Sündenbock ‚abserviert‘; Verweis auf Frontex-abschaffen!-Kampagne)

Ein Teil der eindeutig völkerrechtswidrigen Vorgehensweisen, die u.a. gegen die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Grundrechtecharta verstoßen, soll nachträglich juristisch legitimiert werden. Dafür dient – unter anderem – auch der Neue Pakt.

Die Zerstörung des in der Folge des 2. Weltkrieges geschaffenen Rechts auf Asyl in Deutschland und in Europa verläuft in einem schleichenden Prozess seit spätestens Anfang der 1990er Jahre. Einige der schrecklichen „Meilensteine“ in diesem Zerstörungsprozess waren die defacto-Abschaffung des vorher geltenden Rechts auf Asyl in Deutschland durch die Grundgesetzänderung 1993 mit Stimmen von SPD, FDP und CDUCSU. Weitere „Meilensteine“ waren die Dubliner Abkommen, in denen festgeschrieben wurde, dass die Staaten für Asylverfahren zuständig sein sollten, in denen Geflüchtete als erstes EU-Gebiet betreten. Damit hatte sich Deutschland, da es keine längeren EU-Außengrenzen oder Seegrenzen hat, praktisch eines Großteils der Verantwortung entledigt.

Wir schreiben von „Meilensteinen“, weil die hier vereinbarten vertraglichen und gesetzlichen Regelungen seither für Hunderttausende Menschen die Konsequenz hatte, dass ihnen „vertraglich abgesichert“ das Recht auf Asyl in Deutschland und Europa verweigert wurde. Wir können also auch von „Grabsteinen des Asylrechts“ oder „Steinblöcken in der Mauer der Festung Europa“ sprechen. Wir gehen davon aus, dass der Pakt ein solcher Grabstein werden wird, der nach seiner Verabschiedung über Jahrzehnte hinaus Wirksamkeit im Krieg der EU gegen Geflüchtete entfalten wird – wie die Grundgesetzänderung und die Dubliner Abkommen bis heute.

In den Monaten nach der Veröffentlichung des Paktes wurde das umfangreiche Dokument von vielen Menschenrechts unter die kritische Lupe genommen: es stieß auf Kritik durch beinahe alle relevanten Organisationen: Siehe etwa die Liste der Unterzeichner*innen bei der gemeinsamen Stellungnahme: https://ecre.org/wp-content/uploads/2020/10/NGO-Statement-Pact-Oct-2020-DE-FINAL.pdf

Genaueres dazu, wie der Pakt in sieben Schritten Geflüchtete entrechtet, ist auf der nächsten Seite zu finden.

Vorher möchten euch verständlich machen, wie der Pakt in den „Bau der Festung Europa“ hinein passt.

Obwohl wir oben von ihm als Meilenstein/Grabstein schreiben, ist er nur eines der zahlreichen verwaltungsmäßig-gesetzgeberischen-technischen Steinchen, Steine und Steinquader in den Bauplänen der Festung neben anderen. Das heißt, selbst wenn es gelingt ihn zu stoppen, wird die Mauer auch durch andere Barrieren immer weiter verstärkt. Warum weißt du über diese Dinge nichts? Wieso ist davon kaum jemals etwas in den Medien zu hören?

Eines der Prinzipien der tödlichen EU-Grenzregime ist die

vierfache Unsichtbarmachung des Krieges gegen Geflüchtete:

  • des routinemäßigen Vorgehens/der Verbrechen der „Grenzschützer*innen“,
  • ihrer Organisator*innen und ihrer Organisationsweise
  • der unmittelbaren Profiteur*innen (Arbeitsplätze im Grenzregime; Technologiefirmen und -aktionär*innen, …)
  • und die Unsichtbarmachung der Flucht_Migrant*innen, durch das diese auf dem Meer sterben gelassen werden, in der Wüste verrecken müssen oder in abgeschlossenen Lagern in Isolation und weitgehend entrechtet festgesetzt werden. Das geschieht im Auftrag und mit dem Wissen von EU-Behörden zum Teil innerhalb des europäischen Kontinents, zum Teil aber auch tausende Kilometer von den Außengrenzen entfernt. Dabei handelt es sich nicht um indirekte Wirkungen von Waffendeals oder anderen Schweinereien. Nein, es sind vielmehr Institutionen der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten, die direkt zur Flüchtlingsbekämpfung tausende Kilometer von Europas Grenzen entfernt tätig werden oder andere bezahlen, tätig zu werden. Nicht zur Fluchtursachenbekämpfung wie es so oft heißt, sondern zur Bekämpfung der Geflüchteten selbst.

Der Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament Manfred Weber sagte im März 2020 als griechische Grenzschützer*innen und Faschist*innen gemeinsam Flucht_Migrant*innen an der türkischen Landgrenze mit Gewalt zurückschlugen: „Keiner will diese Bilder.“ und „Niemand will an der Außengrenze solche Bilder.“

Damit enthüllte er unwillentlich eine der zentralen Handlungsprinzipien des europäischen Grenzregime. Das unausgesprochene Prinzip ließe sich ausbuchstabieren in: „Verhindere die Bilder von an europäischen Küsten angespülten Leichnamen, denn die bringen die Leute gegen unsere Politik auf. Lass die Geflüchteten verborgen sein in libyschen Folterlagern oder hinter den Mauern der neu errichteten Hot-Spot-Knäste auf den griechischen Inseln, oder lass sie sterben in der Sahara oder lass sie untergehen auf dem langen Seeweg von westafrikanischen Küsten zu den Kanaren und weiter nach Westen, so dass ihre Leichname niemals an europäische Küsten angespült werden können.“ Spätestens im vergangenen Jahr 2021 hat die See-Fluchtroute Westafrika – Kanaren (laut Caminando Fronteras ca. 3950 Tote), die über das zentrale Mittelmeer (ca. 1500 Tote) als angeblich „tödlichste Fluchtroute der Welt“ abgelöst, was bei einigen „Flucht-Experten“ und Mitplanern des Grenzregimes wie Gerald Knaus („Architekt des schmutzigen EU-Türkei-Deals“) noch nicht angekommen scheint.

Mit der Kampagne gegen den „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“ wollen wir nicht nur ein Bewusstsein für die menschenfeindlichen Inhalte des Paktes schaffen, sondern darüber hinaus das Bewusstsein für die gesamte von Technokrat*innen organisierte und umgesetzte EU-Grenzpolitik stärken. Weil wir denken, dass wer das Ausmaß dieser rassistischen wie mörderischen Politik zu erkennen beginnt, diese nicht länger stillschweigend und damit akzeptierend hinnimmt.

Wir möchten die hier lesenden einladen, sich weiter zu informieren und für ein Europa ohne Mauern und tödliche Grenzregime tätig zu werden!

Die Vorgeschichte zu unserer Kampagne reicht weit vor den Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine zurück. Manche mögen denken, dass sich am Umgang mit den Geflüchteten aus der Ukraine doch zeige, dass Europas Staaten insbesondere die osteuropäischen Regierungen jetzt mehr Menschlichkeit im Umgang mit Geflüchteten zeigen würden.

Das stimmt leider nur dann, wenn es sich um weiße Geflüchtete mit ukrainischen Pässen handelt.

PersonsOf Colour, die aus der Ukraine oder Belarus nach Polen oder die baltischen Staaten zu fliehen versuchten, werden an den Grenzen zurückgeprügelt oder, wenn sie es schaffen, eine der Grenzen zu überwinden, unter unmenschlichen Bedingungen interniert. Das führte nicht nur im Laufe des Winters 2021/22 zu vielen toten Geflüchteten an diesen Grenzen sondern das geht auch jetzt im Juni 2022 noch weiter. Romnja* (Bezeichnung für als weiblich gelesene Personen der Roma), die in den letzten Monaten aus der Ukraine flohen, erlebten und erleben in den angrenzenden europäischen Staaten derart massive rassistische Ausgrenzung, dass einige von ihnen mittlerweile in die umkämpfte Ukraine zurückgeflohen sind.

All diese rassistisch motivierten Handlungen werden seitens der EU-Kommission und auch von der deutschen Bundesregierung stillschweigend geduldet oder auch gefördert.

Waren es am 25.06.2018 noch Nazis, die skandierten „Absaufen! Absaufen!“ und damit übers Meer Flüchtenden den Tod wünschten, war es sechs Wochen danach mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ die selbsternannte Hüterin der „bürgerlichen Tugenden“, die mit der Titelzeile „Oder soll man es lassen?“ (gemeint war die Seenotrettung von Flüchtenden im Mittelmeer) ausdrückte, was die Rede von „europäischen Werten“ bedeutet: Schutz der Besitzenden und Tod und Elend für nicht-reiche Geflüchtete.

Was ist das Problem beim „Neuen Pakt zu Migration und Asyl“?

Eine inhaltlich sehr gute und gut verständliche Zusammenfassung des mehrere Hundert Seiten umfassenden Pakt-Entwurfes stammt von ProAsyl. Sie ist enthalten in der Broschüre vom Januar 2021 „ABWEHREN ABWEISEN ABSCHIEBEN. Über den ‚New Pact on Migration and Asylum'“.

Diese Broschüre könnt ihr herunterladen oder auch gedruckt kostenlos bestellen: https://www.proasyl.de/material/das-geplante-europaeische-asylsystem-hat-nur-ein-ziel/

Wir zitieren diese Zusammenfassung beinahe komplett, weil jede noch kürzere Darstellung uns zu oberflächlich erscheint, um die vielfältige Problematik des Paktes zu verstehen. Und weil wir denken, dass der barrierefreie Zugang dazu wichtig ist. Das Copyright für diesen Teil liegt bei ProAsyl.

ProAsyl schreibt in der Broschüre:“WENN ASYL NUR NOCH AUF DEM PAPIER STEHTMit dem „New Pact on Migration and Asylum“, den die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen im September 2020 vorgelegt hat, treibt die Europäische Union ihre Pläne zur Abwehr von Flüchtlingen massiv voran.Besonders perfide ist die Strategie, die in diesem Entwurf deutlich erkennbar wird: Nicht das Asylrecht selbst wird in Frage gestellt, es wird bereits der Zugang zum Recht auf Asyl verbaut. Neue Hürden im Verfahren sollen dazu führen, dass Menschen keinen Schutz mehr bekommen.Abkommen mit Drittstaaten sollen zudem den Zugang nach Europa verhindern. Das Kalkül: Das Recht auf Asyl bleibt zwar auf dem Papier bestehen, kann aber nicht mehr wahrgenommen werden.

SO FUNKTIONIERT DAS NEUE EUROPÄISCHE „ASYL-VERHINDERUNGSSYSTEM“ – HIER DIE WICHTIGSTEN HÜRDEN

1 Inhaftierung und Fiktion der Nicht-Einreise

In Zukunft sollen alle Asylsuchenden zunächst inhaftiert werden und als „nicht eingereist“ gelten, obwohl sie sich bereits auf dem Boden der EU befinden. Diese sogenannte Fiktion der Nicht-Einreise soll durch pauschale und massenhafte Inhaftierung schutzsuchender Menschen insbesondere an den europäischen Außengrenzen durchgesetzt werden. Solche Inhaftierungen können sich über 24 Wochen erstrecken, im Fall einer „Krise“ sogar auf 40 Wochen ausgedehnt werden. Der Plan der Kommission: So können Menschen abgeschoben werden, ohne je offiziell in die EU eingereist zu sein.

2 Das Screening-Verfahren

Schutzsuchende – egal wo und auf welchem Weg eingereist – müssen ein Screening-Verfahren durchlaufen.Zumeist wird dies in einem haftähnlichen Lager irgendwo an der EU-Außengrenze sein. Hier werden die Menschen identifiziert und registriert. Zudem findet jeweils eine Sicherheits-, Gesundheits- und Vulnerabilitätsüberprüfung statt – allerdings unter Bedingungen, die ungeeignet sind, um z.B. Traumatisierungen oder andere nicht unmittelbar sichtbare Verletzlichkeiten zu erkennen.Das Verfahren soll insgesamt 5–10 Tage dauern.Die Informationen, die im Screening gesammelt werden, führen zu der Entscheidung, welches Verfahren die Betroffenen bekommen: ein beschleunigtes Asylgrenzverfahren, ein normales Asylverfahren oder – wenn kein Asylantrag gestellt wurde – direkt ein Abschiebungsgrenzverfahren. Das Screening ist also eine Art Sortiermaschine. Ein Rechtsbehelf gegen darin gefällte Entscheidungen ist nicht vorgesehen.

3 Das Asylgrenzverfahren

Eine große Zahl Asylsuchender wird künftig das Asylverfahren abgeschottet und isoliert an den Außengrenzen durchlaufen. Die dringend notwendige Unterstützung durch eine unabhängige Beratung und Rechtsanwält*innen ist nicht gewährleistet. Das Asylgrenzverfahren soll verpflichtend sein für alle Menschen, die aus Fluchtländern kommen, deren durchschnittliche Anerkennungsquote im Asylverfahren unter 20% liegt. Die Berücksichtigung individueller Fluchtgründe wird durch diese Regelung weitgehend unterlaufen. Die Mitgliedstaaten können das Grenzverfahren fast beliebig ausweiten und je nach Anerkennungsquote auf Menschen unterschiedlichster Herkunftsländer anwenden.Ins Asylgrenzverfahren kommen zudem alle, denen vorgeworfen wird, falsche Angaben zu machen oder nachgefragte Dokumente nicht vorzulegen. Der Behördenwillkür wird damit Tür und Tor geöffnet. Abgesehen davon gilt die generelle Regelung, dass der Rechtsschutz im Asylgrenzverfahren auf eine Instanz verkürzt werden soll. Klagen haben keine automatisch aufschiebende Wirkung – damit können Abschiebungen trotz laufender Verfahren durchgeführt werden.

„DIE EU SPRICHT IMMER VON MENSCHENRECHTEN. ABER SIE BEHANDELT UNS WIE MÜLL.“ Yaser Taheri, Jugendlicher aus Afghanistan

4 Neue Bestimmungen zu „sicheren Drittstaaten“

Wenn ein Staat durch die EU als „sicherer Drittstaat“ eingestuft worden ist, sollen Abschiebungen dorthin ohne Prüfung der Fluchtgründe stattfinden. Schutz gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention muss dort nicht mehr gewährleistet sein. Sollte die Fluchtroute Schutzsuchende durch einen solchen Staat führen, würde dies allein schon genügen, um sie dorthin abzuschieben. Diese Möglichkeit zur Abschiebung wurde bereits im EU-Türkei-Deal vom März 2016 angelegt, in dem die Türkei kurzerhand zum „sicheren Drittstaat“ erklärt wurde – obwohl dort die Genfer Flüchtlingskonvention nur eingeschränkt gilt.

5 Das Abschiebungsgrenzverfahren

Schutzsuchende, die im Asylgrenzverfahren abgelehnt werden, kommen ins Abschiebungsgrenzverfahren und gelten damit weiterhin als „nicht eingereist“. Das Abschiebungsgrenzverfahren soll ermöglichen, abgelehnte Personen für 12 Wochen festzuhalten, ohne dass die Kriterien zum Vollzug der Abschiebungshaft erfüllt sind. Eine solche Abschiebungshaft kann sich dann noch anschließen und bis zu 18 Monate dauern, was addiert mit der Zeit der Nicht-Einreise während des Screenings und dem Asylgrenzverfahren zu einer Freiheitsbeschränkung und -entziehung von zwei Jahren führen kann. All dies wäre möglich, ohne dass die betreffende Person sich irgendeiner Straftat schuldig gemacht hätte.

6 Die Asyl-und Migrationsmanagementverordnung

Diese Verordnung soll anstelle der bisherigen Dublin-III-Verordnung treten, die festlegt, welcher EU-Mitgliedsstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Nach wie vor soll primär der EU-Staat, den ein Flüchtling als erstes betreten hat, für das Verfahren zuständig sein. Damit bleiben die Staaten an der EU-Außengrenze weiterhin in der Hauptverantwortung. Wohin dies führen kann, wird zum Beispiel am neuen Elendslager Moria auf Lesbos deutlich.Die „Rückführung“ Schutzsuchender in den EU-Staat ihrer Ersteinreise soll vereinfacht werden. Der Rechtsschutz wird stark eingeschränkt, Inhaftierungen werden hingegen ausgeweitet, ebenso die Residenzpflicht. Ein verbindlicher Solidarmechanismus bei der Verteilung Schutzsuchender fehlt. Das bisherige Dublin-System wird also deutlich verschärft.Eine weitere ganz besondere Regelung sieht sogenannte Abschiebepatenschaften vor. EU-Staaten, die die Aufnahme Geflüchteter verweigern, sollen als Ausgleich einen Beitrag zu deren Ausreise leisten. Schaffen sie es nicht, binnen acht Monaten eine Abschiebung für einen anderen EU-Staat zu realisieren, müssen sie den jeweiligen Flüchtling selbst aufnehmen. Für die betroffenen Menschen eine katastrophale Regelung.

7 Die Krisen-Verordnung

Im Falle einer Krise dürfen Mitgliedstaaten die Grenzverfahren massiv ausweiten. Von einer solchen Regelung wären dann sogar Flüchtlinge aus Ländern betroffen, für die es eine Anerkennungsquote im Asylverfahren von bis zu 75% gibt.Sowohl das Grenzverfahren als auch das Abschiebungsgrenzverfahren kann um jeweils acht Wochen verlängert werden – ebenso die entsprechende Inhaftierung. Eine gesamte Haftdauer von über neun Monaten kann damit ohne weitere Begründung verhängt werden.Während einer Krise soll es zukünftig auch erlaubt sein, Asylanträge einen Monat lang nicht zu registrieren. Das kann dramatische Folgen haben. So setzte Griechenland im März 2020 zu diesem Zeitpunkt noch europarechtswidrig die Entgegennahme von Asylanträgen aus und inhaftierte die betroffenen Menschen unter anderem auf einem Kriegsschiff!–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#–#-NEIN ZUM „NEW PACT ON MIGRATION AND ASYLUM“ – NEIN ZU EINEM EUROPA DER HAFT- UND FLÜCHTLINGSLAGER!Die EU-Kommission untergräbt mit ihren Vorschlägen im „New Pact“ die Grundpfeiler des Flüchtlingsschutzes.Der Zugang zum Recht auf Asyl in Europa wird weitgehend versperrt. Flüchtlinge sollen ohne Prüfung ihrer Schutzbedürftigkeit zurückgewiesen werden oder hinter Zäunen und Lagermauern verschwinden – und damit für die Öffentlichkeit unsichtbar gemacht werden. Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden unterminiert.“Soweit die Zusammenfassung der gefährlichsten Inhalte des geplanten Paktes durch ProAsyl.Eine noch ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Pakt in Form eines Rechtsgutachtens findet ihr ebenfalls bei ProAsyl:https://www.proasyl.de/material/der-new-pact-neue-grenzverfahren-mehr-haft-keine-loesung-alter-probleme-kopie/Davon gibt es eine englischsprachige Version: https://www.proasyl.de/material/the-new-pact-new-border-procedures-more-detention-no-solution-to-old-problems/

Wird fortgesetzt.

Literatur (Stand 09.06.2022)

Das in unseren Augen beste und aktuellste Buch um den Ausbau Europas zur Festung in seinen vielfältigen Dimensionen zu begreifen, ist:

Leben ohne Atomstrom (Hrsg.)/Autorinnenkollektiv mEUterei: Grenzenlose Gewalt. Der unerklärte Krieg der EU gegen Flüchtende. Berlin/Hamburg : Vlg. Assoziation A (März 2022). 311 Seiten. 18 Euro.

Um zu begreifen, was das Leben in einem Hotspotlager für die Insass*innen bedeutet und die Erfahrung der dauernden Ausgrenzung nachzuvollziehen, empfehlen wir:Parwana Amiri: Meine Worte brechen eure Grenzen. Briefe an die Welt aus Moria. Zürich: edition agites 2021. 10 schweizer Franken (ca. 16 Euro) Den gesamten Text des Buches auf englisch könnt ihr gratis hier herunterladen:

Klicke, um auf broshure-Letters-from-Moria-202002-screen.pdf zuzugreifen

Parwana Amiri schreibt in social media-Kanälen über ihre Kämpfe als geflüchtete Aktivistin:https://twitter.com/parwana_amiri bzw. als Spiegel https://nitter.net/parwana_amiri https://www.instagram.com/parwanaamiriofficial/ https://www.facebook.com/Parwana126/

Links

https://www.proasyl.de/thema/ (deu)

https://migration-control.info/ (deu/eng/frz/ara)

Der Twitter-Kanal des Journalisten Matthias Monroy ist eine hervorragende Quelle zu vielen neuen Entwicklungen der Grenzregime :https://twitter.com/matthimon (deu/eng) barrierearmer Spiegel: https://nitter.net/matthimon/with_replies

https://antira-kompass.info/ (deu)

https://www.borderline-europe.de/ (deu/eng)

https://www.statewatch.org/search?searchTerm=Tracking+the+pact&filters=&tags=&dateFrom=&dateTo=&currentPage=1&pageSize=20&sortDateAscending=desc (eng – hier werden Artikel über die Fortentwicklung des Paktes veröffentlicht) Die statewatch.org-Seite enthält auch darüber hinaus wichtige Informationen zu Grenzregimes.

https://twitter.com/RefugeesinLibya Spiegel: https://nitter.net/RefugeesinLibya (eng/ara) https://alarmphone.org/ (end/deu)

https://alarmephonesahara.info (eng/frz)

https://areyousyrious.medium.com/ (eng)

https://euobserver.com/migration (eng – hier werden auch öfters Artikel veröffentlicht, die über die Schritte einzelner Akteure zum Pakt berichten)

https://www.borderviolence.eu/ (eng)

Unsere to do list

für die nächsten Seiten und Ausblick:

Facetten der EU-Grenzregime

Die europäischen Grenzregime werden kontinuierlich zu Räumen der Entrechtung von Flucht_Migrant*innen, der Missachtung ihrer Menschenwürde und ihres Sterbenlassens weiterentwickelt.

Die folgende Liste des Grauens, das von den europäischen Grenzregime ausgeht, ist unvollständig. Die administrativ-technischen subtilen, brutalen und tödlichen Mittel, mit denen Flucht_Migrant*innen bekämpft werden, wurden in den letzten Jahren zunehmend ausgebaut:

Mauerbau in Griechenland, Ungarn, Polen, Litauen, …

Pushbacks durch griechische, ungarische, kroatische, spanische, maltesische, polnische, litauische, … Grenzschützer*innen unterstützt von FRONTEX und faschistischen Vigilantes

Pullbacks nach Libyen in die Lager des Schreckens und des Todes – laut Amnesty sind 82.000 Flucht_Migrant*innen in den letzten 5 Jahren zum Opfer gemacht worden mit freundlicher Unterstützung von Frontex und italienischen und maltesischen Behörden.

Aufrüstung der Grenzschützer*innen mit Waffen und HighTech (auch um die europäische Wertschöpfung anzukurbeln).

Export der Migrationsbekämpfungstechnologien in afrikanische Staaten als „Entwicklungshilfe“.

Militärische und polizeiliche „Ausbildungsmissionen“ (bezeichnendes Wort) in afrikanischen Staaten mit dem (in-)offiziellen Ziel der Flucht_Migrationsbekämpfung.

Ständig zunehmende Kriminalisierung von Flucht_Migrant*innen und ihrer Unterstützer*innen.

Zunehmende Abschottung und Festsetzung/Inhaftierung von Flucht_Migrant*innen den Camps an den Hotspots (und geplant auch für weit außerhalb Europas gelegener Orte)

Zunehmende Verweigerung ordentlicher juristischer Verfahren und Vorenthaltung unabhängiger Beratung für Flucht_Migrant*innen an den Grenzen.

Drastische Aufstockung der Abschiebemittel innerhalb der EU und an den Grenzen

In jüngster Zeit ist der Prozess des Festungsbaues beschleunigt worden – auch in Folge der 2015 kurzfristig sichtbarer gewordenen und durchgesetzten Flucht_Migration von mehr als einer Million Menschen, die es in die EU schafften. Zeichen der Beschleunigung:

Massiver Ausbau der finanziellen, personellen und militärischen Mittel von FRONTEX (Bewaffnung mit Pistolen, Ausbau der satelliten- und drohnengestützten Überwachung der Fluchtrouten, …)

Schaffung einer eigenständigen EU-Asylagentur

Institutionalisierung des Prozesses auf EU-Ebene koordiniert die Vorverlagerung der Außengrenzen voranzutreiben

Welche konkrete Rolle spielt etwa der Strategische Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen (SAEGA/SCIFA) der EU? Auf dessen Agenda steht:

„In dem Strategischen Ausschuss für Einwanderungs-, Grenz- und Asylfragen kommen hochrangige Beamten zusammen. Sie befassen sich auf strategischer Ebene mit verschiedenen Fragen im Bereich EinwanderungAsyl und Grenzen.

Der Ausschuss befasst sich vor allem mit: horizontalen und Querschnittsthemen, politisch wichtigen Gesetzgebungsvorschlägen, nicht die Gesetzgebung betreffenden Initiativen“

hXXps://www.consilium.europa.eu/de/council-eu/preparatory-bodies/strategic-committee-immigration-frontiers-asylum/

SAEGA = Strategic Committee on Immigration, Frontiers and Asylum SCIFA

Pushbacks

Pullbacks

Behinderung der Seenotrettung

Kriminalisierung von Geflüchteten und Unterstützer*innen

Mauerbau

Lager-Politik (Hotspots, Libyen, Anker-Zentren, neue Lager außerhalb der EU, …)

Frontex

„Externalisierung“ (polizeiliche und militärische Ausbildungsmissionen, Exporte der Grenztechnologien)

Schengen-Rat (neu installiert)

Schengener Grenzkodex

EU-Asyl-Agentur (neu installiert)

Technologisierung (Drohnen, Satelliten, Eurodac, sonstige Überwachunsgtechnologie)

Lokaler Widerstand (Aktionen benennen und Anknüpfungspunkte aufzeigen)