Iran: Ein Regime aus vergangenen Zeiten
Seit der Verhaftung und Ermordung der iranischen Kurdin Zhina Amini am 16. September 2022 protestieren Hunderttausende entschlossen gegen das theokratische Regime im Iran. Der Widerstand auf der Strasse gegen die Diktatur und der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit flammen seit Jahrzehnten immer wieder auf. Ein Blick in die iranische Geschichte der letzten 100 Jahre zeigt, dass die Abschaffung der «Islamischen Republik» längst überfällig ist.
von David Ales (BFS Basel)
1. Die Schah-Diktatur unter Reza Khan
Das Gebiet des heutigen Iran wurde während Jahrhunderten von verschiedenen Dynastien beherrscht. Im 19. Jahrhundert gelang es dem Britischen Königreich, seinen Einfluss in der Region auszubauen. Britische Unternehmen begannen Rohstoffe abzubauen und kontrollierten schliesslich grosse Teile des iranischen Handels. Formell schaffte es der Iran, seine Unabhängigkeit zu wahren und keine Kolonie zu werden. Dennoch war der Einfluss des Britischen Empires und auch des Russischen Reiches in der Region beträchtlich.
1925 gelang es dem Armeeoffizier und Politiker Reza Khan Pahlavi, als neuer Schah (dt. Herrscher) die Macht zu ergreifen. Pahlavi war von den Ideen Kemal Atatürks beeinflusst und strebte eine Modernisierung des Landes nach westlichem Vorbild an. In den kommenden Jahrzehnten stärkte er die Macht der Zentralregierung und modernisierte die Verwaltung. Das Bildungs- und Justizwesen wurden reformiert, die Infrastruktur des Landes ausgebaut, die Industrialisierung vorangetrieben und der Einfluss des Klerus zurückgedrängt. 1936 wurde Frauen verboten, sich zu verschleiern. Von Männern wurde verlangt, sich nach westlichem Vorbild kleiden.
Trotz den Versuchen der Schah-Diktatur, den Iran zu einem Industrieland nach westlichem Vorbild zu machen, blieb der Iran ein von imperialistischen Mächten abhängiger Staat. Die Anglo-Persian Oil Company, welche mit dem Abbau und dem Export des iranischen Erdöls beauftragt war, gehörte zu 52% dem britischen Staat. Letzterer eignete sich mit der Ölförderung den Grossteil der Profite an, während Millionen Iraner:innen in bitterer Armut lebten.
Die angestrebte Modernisierung des Irans wurde längst nicht von allen gutgeheissen. Von der Industrialisierung einiger Gebiete und dem Abbau von Bodenschätzen profitierte neben internationalen Konzernen nur ein kleiner Teil der iranischen Gesellschaft. In ländlichen Gebieten änderte sich oft wenig. Kleinhändler, Hand- werker und Manufakturbesitzer, welche das Rückgrat der traditionellen Basar-Ökonomie bildeten, sahen sich durch die Entstehung neuer Produktionsmethoden bedroht. Der iranische Klerus sowie konservativ-religiöse Milieus allgemein standen der westlich orientierten Politik des Schahs kritisch bis feindlich gegenüber.
In den 1930er Jahren baute der Schah die ökonomischen Beziehungen zu Deutschland aus. Bis Ende der 1930er Jahre wurde Deutschland zu einem der wichtigsten Handelspartner. 1941 wurde der Iran – obwohl offiziell im Zweiten Weltkrieg neutral – von britischen und sowjetischen Truppen besetzt. Die Briten zwangen den Schah zur Abdankung, in dem sie ihm androhten, den Iran dauerhaft zu besetzten. Reza Khans Nachfolger wurde sein Sohn, Mohammad Reza Pahlavi. Unter der Bedingung, mit den Alliierten zu kooperieren und ihnen Zugang zu Transport- und Kommunikationsmitteln zu gewähren, konnte der Iran seine formelle Unabhängigkeit wahren.
2. Premierminister Mossadegh und die Operation Ajax
Dass die von den Briten zugesicherte Unabhängigkeit des Irans rein formeller Natur war, zeigte sich zu Beginn der 1950er Jahre. Der damalige Premierminister Moham- mad Mossadegh, der im Gegensatz zum Schah äusserst populär war, beschloss 1951 mit der Parole «Das Öl gehört uns!» die iranische Erdölförderung zu verstaatlichen. Mit dieser auf nationale Interessen ausgerichteten Politik geriet Mossadegh nicht nur in Opposition zur britischen und US-amerikanischen Regierung, sondern auch zum Schah. Letzterer war entschlossen, weiterhin eine prowestliche und USA-freundliche Politik zu verfolgen.
Die Regierungen der USA und Grossbritanniens waren fest entschlossen, die Verstaatlichung der Ölindustrie zu stoppen und Mossadegh abzusetzen. Sie verhäng- ten ein sofortiges Wirtschaftsembargo und stürzten die iranische Wirtschaft damit in eine tiefe Krise. Teile der Bevölkerung hungerten. Durch die kritische Lage geriet Mossadegh zunehmend unter Druck. Gleichzeitig bereiteten der US-Geheimdienst, CIA sowie der britische MI6 mit Schah-treuen Militärs, Grossgrundbesitzern und Poli- tikern einen Putsch gegen Mossadegh vor. Mit der von der CIA koordinierten (und natürlich völkerrechtswidrigen) «Operation Ajax» konnte sich der Schah schliesslich im August 1953 zurück an die Macht putschen. Mossadegh wurde unter Hausarrest gestellt. Mit der Rückkehr des Schahs fiel auch das staatliche Ölmonopol – US-ameri- kanische und europäische Firmen konnten sich während Jahrzehnten weiter an der Ölförderung im Iran bereichern.
Aus heutiger Sicht ist es unmöglich abzuschätzen, wie und in welche Richtung sich die iranische Gesellschaft unter der Regierung Mossadeghs entwickelt hätte. Fest steht aber, dass es schon in den 1950er Jahren beinahe gelungen wäre, die Schah-Diktatur zu beenden. Es waren die politischen und ökonomischen Interessen des Westens – allen voran der USA – die es dem Schah ermöglichten, für weitere 25 Jahre an der Macht zu bleiben.
3. Modernisierung und Repression
Wieder an der Macht, setzte Schah Mohammed Reza seinen Modernisierungskurs fort. Ab 1963 verabschiedete er ein umfangreiches Reformprogramm unter dem Namen «Weisse Revolution». Dieses beinhaltete eine weitreichende Landreform zu Gunsten der Bäuer:innen, die Privatisierung staatlicher Betriebe, eine Gewinnbeteiligung für Arbeiter:innen und Angestellte von Unternehmen sowie das aktive und passive Frauenstimmrecht. Gleichzeitig wurde seine Herrschaft zunehmend autoritärer und sein Vorgehen gegenüber Oppositionellen brutaler. Der iranische Geheimdienst SAVAK ging rigoros gegen Schah-kritische und oppositionelle Bewegungen vor.
Die Durchsetzung moderner kapitalistischer Verhältnisse brachte für manche Iraner:innen Verbesserungen ihrer Lebensverhältnisse mit sich. Doch Millionen von Menschen – sowohl auf dem Land als auch in den Armenvierteln der grossen Städte – litten weiterhin unter extremer Armut. Zwar wuchs die iranische Wirtschaft und die Infrastruktur konnte verbessert werden, doch viele lokal hergestellte Produkte und Konsumgüter wurden nicht für den einheimischen Markt, sondern für den Export in westliche Länder produziert. Viele konservative Milieus fühlten sich von den gesellschaftlichen Veränderungen übergangen. Der Schah, der seine Ferien mit seiner Familie gerne in St. Moritz oder Miami verbrachte, führte ein zunehmend abgehobenes Dasein. Er lebte in grossem Reichtum und entfremdete sich immer mehr von der Bevölkerung.
Gegen die Politik des Schahs bildeten sich mehrere oppositionelle Strömungen:
- Die sogenannte «Nationale Front», zu deren Gründern 1949 auch Premierminister Mossadegh gezählt hatte, umfasste nationalistische, republi- kanische und sozialdemokratische Kräfte. Das vereinende Hauptanliegen der Nationalen Front bestand darin, der politischen und ökonomischen Abhängigkeit des Irans von westlichen Ländern ein Ende zu setzen.
- Eine reaktionär-klerikale Bewegung, angeführt vom ultrarechten Geistlichen Ruhollah Chomeini, der ab 1964 vom Exil aus operierte. Chomeini lehnte die Modernisierung und die USA-freundliche Politik des Schahs ab und forderte stattdessen eine Gesellschaft, die mit den Grundsätzen des Islams vereinbar sein sollte. Er verwendete dabei eine radikale und äusserst effiziente Sozial- rhetorik, die bei vielen gut ankam. Den Schah und die iranischen Neureichen bezeichnete er als «Parasiten am Körper des Volkes». Er versprach, die Armut der Bevölkerung zu lindern und ein lebenswertes Leben für alle zu ermöglichen. Im Exil entwickelte er auch die Idee einer «Islamischen Republik», in der die Macht nicht vom Volk, sondern von einem obersten religiösen Führer ausgehen sollte. Die klerikale Bewegung war vor allem bei konservativen, ärmeren und ländlichen Bevölkerungsteilen verankert, hatte aber auch in anderen Kreisen Anhänger:innen.
- 3. Eine linke Bewegung, zu der die moskauorientierte «marxistisch-leninistische» Tudeh-Partei gehörte und die in den industriellen Zentren sowie im studentischen Milieu viel Anklang fand. Da die Tudeh-Partei schon 1949 aufgelöst und verboten wurde, operierten viele Aktivist:innen im Untergrund, organisierten sich im Ausland oder beteiligten sich an der (bürgerlich dominierten) Nationalen Front. In den 1960er und 70er Jahren entstanden weitere linke Parteien und Guerilla-Organisationen, die der Ansicht waren, dass sich der Schah-Diktatur nur gewaltsam ein Ende bereiten lasse. Zu ihnen gehörten die Volksmudschahedin, welche eine Art islamisch begründeten Sozialismus vertraten sowie die marxistisch orientierte Volksfedajin-Guerilla. Während die Tudeh-Anhänger:innen auf Massendemonstrationen und Streiks setzten, verübten die Guerilla-Gruppen Attentate und bekannten sich zum bewaffneten Widerstand. Unter der Schah-Diktatur musste die gesamte Linke aus der Illegalität operieren und war ständiger Verfolgung ausgesetzt. Dennoch war der Einfluss der linken Kräfte auf die Bevölkerung gross.
Die Oppositionsbewegung wurde in den 1960er und 1970er Jahren immer bedeutender. Obwohl der iranische Inlandgeheimdienst sämtliche oppositionelle Gruppen infiltrierte, verfolgte und die Aktivist:innen wenn möglich inhaftierte oder umbrachte, gelang es dem Schah nicht, den Widerstand auf der Strasse zu brechen. Während der Klerus vor allem die mit dem Schah einhergehende dekadent-westliche Lebensweise und die Säkularisierung ablehnte, prangerte die linke Bewegung die soziale Ungleichheit und die Armut im Land an. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung des Schahs und gegenüber der ständigen Einflussnahme durch die USA und anderer westlicher Länder. Die USA ihrerseits betrachteten den Iran als wichtiges antikommunistisches Bollwerk und unterstützen die Schah-Diktatur ökonomisch, militärisch, finanziell und beratend.
4. Die Islamische Revolution und die Fehler der Linken
Obwohl die iranische Oppositionsbewegung in sich heterogen war und ganz unterschiedliche Absichten und Ziele verfolgte, gelang es Ruhollah Chomeini, sich als Integrationsfigur des gesamten Widerstandes zu präsentieren. Rückwirkend mag es irritieren, dass viele säkulare und linke Strömungen sich nicht von ihm distanzierten. Dies hatte auch damit zu tun, dass Chomeini seine Vorstellungen einer Theokratie (mit ihm selbst an der Spitze) nicht offen propagierte. Stattdessen präsentierte er sich als Verteidiger der armen Leute und bekannte sich gar zu demokratischen Freiheitsrechten und der Gleichberechtigung der Geschlechter.
Auch viele Linke glaubten den Worten Chomeinis und begingen damit eine fatale Fehleinschätzung. Gerade die kommunistisch orientierte Opposition betrachtete den religiösen Charakter grosser Teile der Opposition als Ausdruck einer vorübergehenden Erscheinung; als nachvollziehbaren Ausdruck des Elends und der Unterdrückung der Massen, die sich gegen den Schah auflehnten. In dieser Logik glaubten sie, dass die religiöse Orientierung in dem Masse wieder abnehmen würde, wie sich die sozioökonomischen Zustände der Menschen verbessern und die Schah-Diktatur durch ein partizipatives System ersetzt würde. Ein fataler Irrtum, wie sich wenig später herausstellen sollte.
In den späten 1970er Jahren spielten sich teilweise bürgerkriegsähnliche Zustände zwischen der oppositionellen Bewegung und Anhänger:innen des Regimes ab. Hunderte Gebäude wurden angezündet, Streiks und Massenproteste legten das Land lahm. Die politischen Auseinandersetzungen wurden immer heftiger. Im September 1978 begannen die Beschäftigten des Ölsektors zu streiken. Auch in anderen Sektoren legten Arbeiter:innen ihre Arbeit nieder und schlossen sich den Streiks und Kundgebungen an. Viele Unternehmer verliessen daraufhin das Land. In manchen der führungslosen Fabriken gründeten Arbeiter:innen Schoras (dt. Räte) und begannen, die Produktion selbst zu organisieren. Gegen Ende 1978 wurde der Druck auf der Strasse und in den Betrieben so gross, dass die Macht des Schahs allmählich ins Wanken geriet. Nachdem sich die Präsidenten Frankreichs und der USA, der deutsche Bundeskanzler sowie der britische Premier an der Konferenz von Guadeloupe darauf einigten, die Unterstützung für den Schah einzustellen, flüchtete dieser am 16. Januar 1979 ins Exil. Der Herrschaft des Schahs war damit ein Ende gesetzt.
5. Die islamische Diktatur
Wenige Wochen nach der Flucht des Schahs kehrte Ruhollah Chomeini mit westlicher Unterstützung aus seinem französischen Exil in den Iran zurück. Mit Hilfe ihm treuer paramilitärischer Gruppen, aus denen später die berüchtigten Revolutionsgarden hervorgehen sollten, gelang es Chomeini innert weniger Wochen, alle etablierten Institutionen der Schah-Herrschaft aufzulösen und die Macht an sich zu reissen. Hunderte Anhänger:innen des Schah-Regimes – allen voran die ehemaligen Kader des Sicherheitsdienstes SAVAK und der Armee – wurden verhaftet und hingerichtet.
Nachdem Chomeini seine Macht konsolidiert hatte, ging er dazu über, andere oppositionelle Bewegungen brutal zu verfolgen und zu zerschlagen. Die vor wenigen Monaten gegründeten Arbeiter:innenräte (Schoras) wurden für unislamisch erklärt und durch regimetreue Manager ersetzt. In der zweiten Jahreshälfte 1979 wurden führende Köpfe der bürgerlichen sowie der linken Opposition ins Exil gezwungen oder inhaftiert und hingerichtet. Nun rächte sich, dass viele Linke das politische Projekt und die wahren Absichten Chomeinis und seines klerikalen Blocks falsch eingeschätzt hatten. Innert Monaten wurden die bürgerliche, die kommunistische und alle anderen Strömungen, die sich nicht bedingungslos hinter das neue Regime stellten, ausgeschaltet. Der bewaffnete Widerstand der Volksmudschahedin diente dem neuen Regime eher als Legitimation denn als Hindernis, wenn es darum ging, gewaltsam gegen die iranische Linke vorzugehen.
Zu Beginn der 1980er Jahren hatten Chomeini und seine Anhänger:innen eine neue theokratische Diktatur errichtet, dessen Fundament bis heute intakt ist.
Das System der iranischen Theokratie sieht zwar eine Beteiligung der Bevölkerung durch die Wahl des Präsidenten, des Parlamentes sowie eines Expertenrates vor. Allerdings werden sämtliche Kandidat:innen, welche den Vorstellungen des Klerus widersprechen, von der Wahl ausgeschlossen. An der Spitze des Staates steht der oberste geistliche Führer, der die obersten Richter ernennt und den Sicherheitsapparat kontrolliert. De facto kommt der Iran damit einer Diktatur mit vermeintlich republikanischen Institutionen gleich, welche die Bevölkerung zwar einbindet, aber keine echte politische Freiheit und Meinungsvielfalt zulässt. Der Iran kennt weder eine Presse- noch Organisationsfreiheit.
Für viele noch unerträglicher als die fehlende Demokratie war die von oben verordnete Islamisierung, durch welche die in vielerlei Hinsicht moderne iranische Gesellschaft ab 1979 in ein autoritär-fundamentalistisches System hineingezwängt wurde. Das Strafrecht wurde gemäss den islamischen Grundsätzen der Scharia neu ausgelegt, das Ehe- und Scheidungsrecht angepasst, das Tragen des Schleiers für Frauen wieder zur Pflicht. Schulbücher wurden umgeschrieben, das kulturelle Leben massiv eingeschränkt, der Überwachungsstaat ausgebaut. In den 1980er und 90er Jahren waren es noch die Revolutionsgarden selbst, welche die Bevölkerung – insbesondere die Frauen – täglich durch Schikanen, Zurechtweisungen und mitunter brutale Gewaltanwendung den neuen Kleidungsvorschriften des Regimes unterwarfen. Ab 2006 wurde diese Aufgabe durch die Sittenpolizei übernommen. Diese greift Frauen (und Männer), welche gegen die Kleidungsvorschriften verstossen, auf und unterzieht sie einer «Zwangsinstruierung». Dass dabei Über- griffe, Misshandlungen und mitunter auch tödliche Gewalt zur Anwendung kommen, weiss die iranische Gesellschaft nicht erst seit dem Mord an Zhina Amini.
6. Der Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit
Weite Teile der iranischen Gesellschaft wehrten sich von Beginn an erbittert gegen die Errichtung der islamischen Diktatur. Frauen spielten dabei eine zentrale Rolle. Denn obgleich das neue Regime gegenüber der gesamten Bevölkerung autoritär auftrat, waren die Rückschritte, mit denen sich die iranischen Frauen konfrontiert sahen, besonders drastisch. Schon am 8. März 1979 – dem internationalen Frauenkampftag – gingen Zehntausende Frauen auf die Strasse, um für gleiche Rechte und gegen die neuen Kleidervorschriften zu demonstrieren.
Zwischen 1980 und 1988 befand sich der Iran im Krieg gegen den Irak. Der irakische Diktator Saddam Hussein versuchte durch einen Angriffskrieg Erdölquellen zu erobern und seine Macht auszubauen. Westliche Staaten belieferten beide Länder mit Waffen, unterstützen aber vor allem Saddam Hussein. Hunderttausende Menschen starben. Das iranische Regime nutzte den permanenten Kriegszustand, um gegen innen noch härter durchzugreifen und sämtliche oppositionelle Kräfte als Verräter zu diskreditieren.
Seit Mitte der 1990er Jahre leidet die iranische Wirtschaft unter weitreichenden Wirtschaftssanktionen durch den Westen, die infolge des iranischen Atomprogramms auf Druck der USA verhängt wurden. Innenpolitisch wechseln sich «moderatere» Phasen, in denen die Kleidungsvorschriften gelockert und die Überwachung zurückgefahren wird mit autoritären Phasen ab, in denen das Regime jeweils versucht, erkämpfte Freiheiten wieder abzuschaffen. Neben der repressiven Gewalt der Theokratie leiden Millionen Iraner:innen an Armut, Massenarbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und mangelnden sozioökonomischen Perspektiven.
2009 löste die Wiederwahl des ultrakonservativen Hardliners Mahmud Ahmadinedschads die grössten Proteste seit der Islamischen Revolution aus – die sogenannte «Grüne Bewegung». Vor allem in den Städten gingen Hunderttausende Iraner:innen auf die Strasse und protestierten gegen das Wahlergebnis und die Politik Ahmadinedschads. Das Regime reagierte mit gewohnten Methoden: Dutzende wurden ermordet, Tausende inhaftiert, viele von ihnen gefoltert. Angesichts der Hartnäckigkeit der Proteste gingen viele internationale Beobachter 2009 davon aus, dass das Regime bald fallen würde.
Ab 2012 unterstützt das iranische Regime im syrischen Bürgerkrieg die syrische Armee und damit Diktator Baschar al-Assad. Auch in anderen arabischen Ländern versucht der Iran seinen Einfluss auszubauen und sich als Regionalmacht zu etablieren. Innenpolitisch geht das iranische Regime auch rigoros gegen ethnische und religiöse Minderheiten vor. Vor allem die kurdische Bevölkerung leidet unter dem nationalistischen Bestreben des Regimes, die iranische Sprache, Kultur und Religion allen Ethnien aufzuzwingen. In der Logik der Mullahs gibt es im Iran keine verschiedenen Ethnien, sondern nur eine Glaubensgemeinschaft.
Im Dezember 2017 kam es erneut zu zahlreichen Demonstrationen im ganzen Land. Die Proteste richteten sich gegen Arbeitslosigkeit, ausbleibende Lohnzahlungen und steigende Lebensmittelpreise. Im Gegensatz zu 2009 gingen die Menschen dieses Mal vor allem in ärmeren und auch kleineren Städten auf die Strasse. Viele Jugendliche – von denen im Iran rund ein Viertel arbeitslos ist – beteiligten sich. 2018 fanden immer wieder Proteste und Streiks statt, in denen sich die Menschen sowohl gegen ihre sozioökonomische Lage also auch gegen die politischen Zustände zur Wehr setzten.
Im November 2019 kam es abermals zu Massendemonstrationen und Protesten in vielen Städten und Dörfern. Auslöser war dieses Mal die starke Erhöhung der Benzinpreise, doch entwickelten sich die Proteste schnell zu einer allgemeinen Bewegung gegen die islamische Diktatur und die Gewalt des Regimes. Dutzende Banken und Regierungseinrichtungen wurden angegriffen, die Kundgebungen wurden immer radikaler. Das Regime ging mit aller Härte gegen die Protestierenden vor, Hunderte Menschen kamen ums Leben.
7. Frau – Leben – Freiheit: Eine neue Qualität des Protests
Ausgelöst durch die Ermordung der iranischen Kurdin Zhina Amini geht die Bevölkerung seit September 2022 erneut auf die Strasse. Auch wenn die aktuellen Ereignisse sicherlich in Kontinuität mit vergangenen Protestwellen stehen, zeigen sich hinsichtlich der Zusammensetzung als auch des Vorgehens der Protestierenden neue Entwicklungen:
- Der wohl bekannteste Slogan «Frau, Leben, Freiheit» bringt klar zum Ausdruck, dass es der Protestbewegung darum geht, der von oben organisierten systematischen Diskriminierung und Überwachung iranischer Frauen ein Ende zu setzen. Für viele ist klar, dass die Kontrolle des Regimes über den Körper und das Verhalten von Frauen ein Grundpfeiler der islamischen Diktatur ist. Der Kampf gegen den Kopftuchzwang ist daher nicht nur ein Kampf um individuelle Freiheit, sondern trifft die iranische Theokratie ins Herz. Frauen (und Mädchen) spielen in der aktuellen Protestbewegung daher auch eine zentrale Rolle. Sie verbrennen öffentlich ihre Kopftücher, zerstören Bilder und andere Symbole religiöser Führer oder wehren sich gegen Anfeindungen und Angriffe durch Anhänger:innen des Regimes. Dabei erfahren sie Unterstützung und Solidarität durch viele Männer. Die aktuellen Proteste wehren sich nicht nur gegen die Gewalt des Regimes, sondern stellen den islamistisch-religiösen und diktatorischen Charakter des Regimes grundsätzlich in Frage.
- Gleichzeitig verweist der Slogan «Frau, Leben, Freiheit», der ursprünglich von der kurdischen Frauen- und Freiheitsbewegung stammt, auf den dezidiert transethnischen Charakter der Bewegung. Noch mehr als zuvor kämpfen Iraner:innen – egal ob Perser:innen, Belutsch:innen oder Kurd:innen – vereint und mit gemeinsamen Forderungen für eine Zukunft ohne (islamische) Diktatur. Dabei ist der Kampf gegen das Regime auch ein Kampf gegen den iranischen Chauvinismus, der andere Ethnien seit Jahrzehnten unterdrückt und ihnen ihre Autonomie abspricht.
- Schliesslich ist die aktuelle Protestbewegung in ganz verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen verankert. Sie bringt Menschen unterschiedlichen Geschlechts, Schüler:innen, Industriearbeiter:innen, Studierende und Rent- ner:innen auf die Strasse. Sie umfasst Streiks, Demonstra- tionen, zivilen Ungehorsam, künstlerische Aktionsformen und Social-Media-Aktionen.
Die Proteste im Iran brechen in immer kürzeren Abständen aus und werden immer entschlossener. Vieles deutet darauf hin, dass sich das Land in einem revolutionären Prozess befindet, dessen Ausgang und Dauer allerdings völlig offen sind. Ob es der Bewegung gelingt, über die Proteste hinaus eine kohärente und mehrheitsfähige Vorstellung darüber zu entwickeln, was nach der islamischen Diktatur folgen soll, ist ungewiss. Dies umso mehr, weil sich die iranische Gesellschaft ohne legale oppositionelle Parteien und Gewerkschaften organisieren muss.
Das iranische Regime setzt einmal mehr auf die Karte der Repression und wendet brutale Gewalt an. In den letzten Wochen sind abermals Hunderte Menschen gestorben, Tausende verletzt und inhaftiert worden. Seit Dezember werden Protestierende sogar hingerichtet. Und obgleich sich die Iraner:innen dieser Gefahren bewusst sind, gehen die Proteste weiter. Für viele Menschen im Iran ist die Wut grösser als die Angst. Die Zerschlagung des theokratischen Regimes ist längst überfällig.
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