Globale Linke: Ein Antiimperialismus ohne Idioten

Was wären die Grundlagen für einen Internationalismus, der eine universelle Befreiung ermöglicht? Eine linke Praxis jenseits der Nation muss sich auch gegen die globalen Kriegsapparate richten.

Von Vanessa E. Thompson und Raul Zelik

Die US-Regierung hat eine Massenhatz auf elf Millionen illegalisierte Arbeiter:innen eröffnet. Die EU finanziert Terrortrupps in Libyen, um Flüchtende von ihren Aussengrenzen fernzuhalten. In Gaza droht nach KI-gesteuerter Massentötung die Vertreibung von mehr als zwei Millionen Menschen für die Errichtung einer «Riviera of the Middle East» (Donald Trump). Und die Ukraine wird, nachdem Zehntausende in Schützengräben gestorben sind, von Grossmächten nach Rohstoffkriterien aufgeteilt.

Was wir hier erleben, ist nicht einfach Ergebnis der erstarkenden Rechten und eines Werteverlusts in den westlichen Demokratien, wie viele Liberale vermuten. Wir sind Zeug:innen einer imperialen Neuordnung der Welt, die mit umfangreichen Angriffen auf die globalen Armen – die «Überschussbevölkerung» – einhergeht. Der Politikwissenschaftler William I. Robinson hat das als zentrales Merkmal des «Faschismus des 21. Jahrhunderts» bezeichnet und spricht von «militarisierter Akkumulation». Die Abolitionistin Ruth Wilson Gilmore konstatierte bereits vor über zwanzig Jahren einen Wandel hin zu einem globalen «post-Keynesian militarism».

Der sich ausbreitende Gewaltzustand wird aber nicht nur von oben produziert. Auch die Entwicklungen im Kongo und im Sudan, in Kolumbien, Mexiko oder Haiti, über die meist nur als sich ausbreitendes Chaos berichtet wird, sind tief eingebunden in die Logik militarisierter Akkumulation. In einem Wirtschaftssystem, das die gesamte Weltbevölkerung in seine Märkte gezwungen hat, nun aber für viele keine Verwendung mehr findet, suchen Teile der «Überschüssigen» eine materielle Teilhabe als Gewaltunternehmer: Raub und sexualisierte Gewalt als Geschäftsmodell und schärfste Form der Konkurrenz.

Simplistisches Lagerdenken

Ohne Imperialismusbegriff lässt sich diese Entwicklung nicht verstehen. «Imperialismus» beschreibt zunächst einmal nicht mehr als die territoriale Ausdifferenzierung von Herrschaft zwischen einem Zentrum und seinen Peripherien. Im Kapitalismus jedoch, dessen Akkumulationszwang immer auch auf räumlicher Expansion beruht, entwickelt die Gliederung von Räumen eine eigene Dynamik. Weil das Kapital stets nach Anlagemöglichkeiten sucht, drängt es über Landesgrenzen hinweg und muss dabei mit der militärisch-politischen Macht der Staaten gesichert werden. Aus der nationalen Konkurrenz erwachsen dann auch immer geopolitische Konfrontationen.

Doch darüber, wie sich dieser Zusammenhang auswirkt, kursieren heute sehr unterschiedliche Vorstellungen. Für die einen ist antiimperialistisch, was sich den Interessen der USA als grösster Wirtschafts- und Militärmacht widersetzt – im Zweifelsfall auch despotische Regionalmächte oder islamistische Milizen. Die Syrerin Leila Al-Shami hat dies als «anti-imperialism of idiots» bezeichnet. Ein simplistisches Lagerdenken oder pointiert auf Englisch: «campism».

Nicht minder idiotisch allerdings ist jener «neue» Antiimperialismus, wie er vom britischen Publizisten Paul Mason oder dem Vordenker der deutschen Grünen, Ralf Fücks, vertreten wird und der «Imperialismus» als Synonym für die Aussenpolitik autoritärer Regime verwendet. Für Exlinke wie Mason und Fücks sind das um seine angestammte Einflusssphäre fürchtende Russland Putins und die autoritär regierte Volksrepublik China die gefährlichsten imperialistischen Mächte der Gegenwart. Wenig überraschend werben sie denn auch für weitere Aufrüstung und einen Antiimperialismus an der Seite der Nato – ohne sich mit den realen Kräfteverhältnissen in der Welt aufzuhalten: Während die USA 800 Militärbasen in mehr als achtzig Ländern unterhalten, verfügt Russland über 9, China über ganze 2 ausländische Militärstützpunkte. Die US-Militärausgaben sind fast dreimal so hoch wie die Chinas und Russlands zusammengezählt, und auch die Kriege des liberaldemokratischen Westens sind, entgegen allen Selbstvergewisserungen, weder «präziser» noch «humaner» als die Russlands. Die Gesellschaften in Afghanistan, Libyen oder dem Irak wurden durch die Kriege der USA nicht minder verheerend zerstört als die Ukraine durch den russischen Überfall.

Im Unterschied zu Ansätzen, die sich auf die eine oder andere nationalstaatliche Seite schlagen, braucht es einen Imperialismusbegriff, der von den ökonomischen Prozessen ausgeht und die strukturellen Ähnlichkeiten der verschiedenen imperialistischen Akteure erkennt. Sandro Mezzadra und Brett Neilson schlagen in ihrem neuen Buch, «The Rest and the West. Capital and Power in a Multipolar World», eine Aktualisierung marxistischer Imperialismustheorien vor. Sie sind der Ansicht, dass Einheit und Fragmentierung im globalisierten Kapitalismus zusammengedacht werden müssen. Die ökonomische Globalisierung besitze auch weiterhin eine Tendenz zu Vereinigung und Vereinheitlichung. Zugleich resultierten aus der multipolaren Konkurrenz zwischen den kapitalistischen Staaten aber auch Zentrifugalkräfte und Brüche.

Die «multipolare» Weltordnung ist damit ein Treiber neuer Kriegsdynamiken: Einerseits führt die wachsende Konkurrenz zum geopolitischen Wettlauf um Ressourcen, andererseits entsteht in den Nischen der zerbröckelnden Ordnung Raum für subimperialistische Projekte. Wirtschaftlich eher unbedeutende Regionalmächte wie Russland, die Türkei oder der Iran setzen auch deshalb seit einigen Jahren so stark auf die militärische Karte, weil sie ihre ökonomische Unterlegenheit durch militärische Aggressivität wettzumachen und sich dadurch geopolitische Geltung zu verschaffen hoffen. Trotz der verfallenden US-Hegemonie aber können diese subimperialistischen Regionalmächte die ökonomisch-militärische Macht der Vereinigten Staaten nur lokal begrenzt herausfordern.

Anders könnten sich die Dinge mit China entwickeln, das längst mit einer Landnahme im Globalen Süden beschäftigt ist. Doch bislang unternimmt die zweitgrösste Wirtschaftsmacht der Welt wenig Anstrengungen, diese Expansion auch militärisch abzusichern. Dazu kommt, dass die ökonomischen Interessen der Kapitale trotz der Konkurrenz ihrer Nationalstaaten nach wie vor eng verschränkt sind. Der Hongkonger Sozialist Promise Li hat das als «antagonistische Kooperation» bezeichnet. Die aufsteigenden, absteigenden, regionalen oder globalen Imperialismen bekämpfen sich zwar, aber teilen auch grundlegende Interessen – und arbeiten dementsprechend weiter zusammen. Im Krieg in der Ukraine etwa finanzieren die europäischen Länder über den Kauf russischen Öls in Indien und der Türkei das Regime in Moskau. Für beide Seiten ist der Fortbestand des Geschäfts wichtiger als der Ausgang des Krieges.

In dieser unübersichtlichen Konstellation ist vieles im Wandel, aber eines sicher: Die USA und ihre Verbündeten bilden weiterhin den mächtigsten Block. Weil Europa von der US-geführten Weltwirtschaftsordnung enorm profitiert, werden die europäischen Eliten alles versuchen, um einen Bruch des transatlantischen Pakts zu vermeiden. Die gigantischen Aufrüstungsvorhaben der EU in Höhe von fast einer Billion Euro, von denen ein beträchtlicher Teil bei US-Rüstungskonzernen landen wird, sind nicht zuletzt dazu gedacht, Trump zu besänftigen und sich als wichtiger Partner zu zeigen. In diesem Sinne wird man auch in Zukunft nicht über Imperialismus sprechen können, ohne die ökonomische und militärische Gewalt des «Westens» an erster Stelle zu nennen.

Jenseits der Nation

Im multipolaren Kapitalismus, wie er sich gerade herausbildet, kann es keine linke Politik an der Seite von Regierenden geben – egal ob in den USA, China, Russland oder der EU. Statt geopolitischer Winkelzüge benötigen wir einen Internationalismus von unten, der einen wichtigen Schritt weiter geht als in der Vergangenheit. Für den antikolonialen Internationalismus der fünfziger bis achtziger Jahre war die Blockfreienbewegung, die sich mit der Bandung-Konferenz 1955 formiert hatte, der wichtigste Referenzpunkt. Doch dieses Projekt war von den Vertreter:innen der neu gegründeten Staaten dominiert und damit nicht nur nationalistisch (ob aus pragmatischen oder ideologischen Gründen), sondern auch von Klassenverhältnissen geprägt.

Die antikolonialen Nationalbewegungen waren, wie die Soziologin Nandita Sharma anmerkt, auf der Grundlage einer «Gleichheit der Souveräne» selbst am Entstehen jener postkolonial-imperialistischen Weltordnung beteiligt, vor deren Trümmern wir heute stehen. Die Dekolonisierung habe sich, wie Sharma schreibt, aufgrund der ideologischen und strukturellen Beziehung zwischen Klassenherrschaft und territorialer Souveränität selbst als konterrevolutionär erwiesen. Zwar wurden die Kolonialreiche formal besiegt, doch mit der Bezugnahme auf die Nation schuf die Dekolonisierungsbewegung die Voraussetzung für den modernen Kapitalismus, der die nationalstaatliche Form zur Regulation von Märkten und sozialen Konflikten benötigt. Die postkoloniale Ordnung hat die – sozial verheerenden – Regeln der Weltmarktkonkurrenz erst richtig durchgesetzt. Innerhalb der Kolonialreiche waren Ausbeutungsverhältnisse stets auch politisch vermittelt. Mit der postkolonialen Weltordnung ist die Unterdrückung subjektloser geworden: Es herrscht der «stumme Zwang» der Märkte.

Aber auch in anderen Hinsichten ist die nationale Dekolonisierung gescheitert. Nach «innen» vertiefte die politische Mobilisierung unter «der Nation» hierarchische Geschlechterverhältnisse und die Unterordnung marginalisierter Gruppen. Unterschiedliche Klasseninteressen wurden verdeckt, und umgekehrt wurden die, wenn auch differenziellen, Gemeinsamkeiten zwischen Arbeiter:innen des Globalen Südens und der Metropolen unsichtbar gemacht.

In Anbetracht der konkreten Herrschaftsverhältnisse in den Kolonialregimes ist es durchaus verständlich, warum Linke im 20. Jahrhundert auf den Gedanken kamen, nationale und soziale Emanzipation wären untrennbar miteinander verknüpft. Und wahr ist auch, dass die Verbindung von nationaler und sozialer Befreiung grosse Wirkungsmacht entfaltete. Die 1950er bis 1970er Jahre waren vermutlich die revolutionärsten Jahrzehnte moderner Geschichte. Doch beides ändert nichts daran, dass sich die nationale Befreiungsperspektive als Sackgasse erwiesen hat.

Noch viel entscheidender ist allerdings, dass sie uns heute – angesichts multipolarer Globalisierung, Klimakollaps, Kriegskapitalismus und massenhafter Fluchtbewegungen – vor falsche Alternativen stellt. Wer den nationalen Wohlfahrtsstaat gegen die neoliberale Deregulierung verteidigt, plädiert implizit auch für die Stärkung der eigenen Volkswirtschaft und für den Ausschluss derjenigen, die nicht zum eigenen Staat gehören. Damit stärkt man, ungewollt, genau jenen Mechanismus, der die Faschisierung vorantreibt.

Frantz Fanon, der sich als Schwarzer Internationalist dem algerischen Befreiungskampf anschloss, erkannte diese Fallstricke bereits 1961: «Nur das Nationalbewusstsein, das kein Nationalismus ist, vermag uns eine internationale Dimension zu geben», schrieb er in «Die Verdammten dieser Erde». Verharre die Unabhängigkeitsbewegung auf der Ebene der Nation, kopiere sie die europäischen Klassenverhältnisse, anstatt sie zu überwinden.

Das ist das Drama, das sich bis heute überall beobachten lässt: Die Nation ist in jener Herrschaft befangen, von der sie sich zu lösen hofft. Die Nationalismen der Unterdrückten, in die so viele Linke ihre Hoffnungen setzten, sind fast überall in reaktionäre Projekte umgeschlagen. In Israel und Palästina zeigt sich das vielleicht am deutlichsten. Der Linkszionismus, von dem sich Jüd:innen eine Freiheitsperspektive jenseits des antisemitischen Terrors in Europa erhofften, reproduzierte in Palästina jene rassistische Hierarchisierung und koloniale Landnahme, die den europäischen Nationalismus prägten. Und obwohl die Palästinenser:innen im israelischen Besatzungssystem eindeutig Unterdrückte sind, ethnischer Säuberung und genozidaler Gewalt ausgesetzt, gilt Ähnliches auch für grosse Teile des palästinensischen Befreiungsnationalismus: Das Verständnis von «Dekolonisierung» ist oft, wie es der britisch-nigerianische Autor Ralph Leonard ausdrückt, massgeblich von «reaktionärem Ethnonationalismus und nativistischem Restaurationismus geprägt, anstatt eine freie Gesellschaft für alle anzustreben».

Auch in weniger umstrittenen Kontexten zeigt sich das Problem der Nation – zum Beispiel in der Geschichte der Schwarzen Diaspora. Mit Unterstützung der weiss dominierten American Colonization Society bauten Schwarze US-Amerikaner:innen in Liberia ab 1820 ein Siedler:innenprojekt auf, das auf nationalem Partikularismus beruhte und eine Rückkehr in die «ursprüngliche Heimat» anstrebte. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Paul Gilroy bezeichnete solche ethnonationalistischen Staatsprojekte in seiner Kritik am Panafrikanisten Marcus Garvey (1887–1940) als «black fascism». Auch von vielen indigenen Bewegungen wird mit einem Verständnis von territorialer Souveränität operiert, das «Ursprünglichkeit» als Kategorie der Zugehörigkeit voranstellt. Unterschlagen wird dabei, dass Menschen immer schon migriert sind und die Gewalt der kapitalistischen Ausbeutung Menschen aller Hautfarben stets «bewegt» hat, wie es etwa Eric Williams für den transatlantischen Sklav:innenhandel gezeigt hat. Keine nationale Befreiungsbewegung, auch die der Unterdrückten nicht, ist davor gefeit, von den Herrschaftslogiken des Nationalstaats eingeholt zu werden. Diese Argumente schwächen antikoloniale Kämpfe nicht, im Gegenteil: Letztere müssen das historische Scheitern ernst nehmen, um überhaupt eine Chance auf wirkliche Veränderung zu eröffnen.

Neuer Internationalismus

Was aber könnten die Grundlagen für einen Internationalismus sein, der eine radikal-universelle Befreiung ermöglicht? Historische Beispiele für einen solchen Internationalismus gibt es zuhauf. Die englischen Textilarbeiter:innen, die sich 1862 weigerten, Baumwolle aus den Südstaaten der USA zu verarbeiten, weil sie die Versklavung von Schwarzen als universelles Problem aller Arbeiter:innen verstanden, praktizierten sie ebenso wie die Mitglieder der Ersten Internationale, die ihre Kämpfe aus einer gemeinsamen transnationalen Streikkasse bestritten. Erst als sich die Arbeiter:innenbewegung Ende des 19. Jahrhunderts zusehends in die nationalstaatliche Politik integrierte, verengte sich ihr Horizont: Reformistische, partikularistische und letztlich auch rassistische Tendenzen erstarkten.

Es oblag den marginalisierten Teilen der Linken – Feministinnen, Abolitionisten, revolutionären Kommunistinnen, Anarchisten –, eine internationalistische Praxis jenseits der Nation immer wieder aufleben zu lassen. Die feministische Kampagne «Wages for Housework» brachte in den 1970er Jahren Hausfrauen, Arbeiter, Sexarbeiterinnen, Bauern und indigene Frauen aus der Dritten Welt zusammen, um – jenseits der (nationalstaatlichen) Forderung «Lohn für Hausarbeit» – eine internationalistische Agenda aufzustellen: Reparationen für die Sklaverei, Ende der Überausbeutung der Frauen in den Kolonien, gemeinsamer Kampf gegen imperialistische Kriege. Der globale Frauenstreik knüpft an diese internationalistische Kampagne an.

Auch in linksgewerkschaftlichen Netzwerken hatte die transnationale Praxis stets einen Platz. Doch wir brauchen weit mehr als das, nämlich materielle internationalistische Infrastrukturen, wie sie das Weltsozialforum, Peoples Global Action oder die Kleinbäuer:innenorganisation Via Campesina zu schaffen versuchten. Auch kritische NGOs wie Medico International oder Projekte, die die Gewerkschaftskämpfe in der Textilbranche Südostasiens transnationalisieren, sind – bei aller Kritik, die man an den Logiken der NGO-Arbeit formulieren muss – wichtige Ansätze für einen neuen Internationalismus. Das Bündnis Debt for Climate, das für eine Schuldenstreichung im Globalen Süden kämpft, steht für einen solchen Internationalismus; wie auch feministische Netzwerke gegen Gewalt wie «Woman Life Freedom», die den Kampf für die Rechte der Palästinenser:innen mit der iranischen «Frau, Leben, Freiheit»-Bewegung verbinden und betonen, dass «kollektive Befreiung nicht durch falsche Dichotomien wie ‹globaler Imperialismus / Islamische Republik› oder ‹Israel koloniale Herrschaft / Hamas reaktionäre Kraft›» erreicht werden kann.

Michael Hardt und Sandro Mezzadra schreiben (siehe WOZ Nr. 23/24), dass der neue Internationalismus «konkreter, materieller und lokaler begründet sein» muss. Dass er immer auch Kämpfe am eigenen Ort stärken muss, ist wichtig, um die Herausbildung paternalistischer Beziehungen zwischen Metropole und Peripherie zu vermeiden, wie sie die Solidaritäts- und NGO-Arbeit seit jeher prägen.

In Anbetracht des Kriegskapitalismus halten wir auch den Begriff der Desertion, den Hardt und Mezzadra ins Spiel bringen, für fundamental, glauben allerdings, dass wir viel weiter gehen müssen. Der Widerstand gegen die Kriegsmaschinen muss ins Zentrum internationalistischer Politik gerückt werden. Anstatt sich den Kopf über die «eigene militärische Handlungsfähigkeit Europas» zu zerbrechen, die am Ende die reaktionärsten Teile der europäischen Gesellschaft stärken wird, müssen Linke eine Politik propagieren, die die Macht der florierenden militärisch-industriellen Komplexe grenzüberschreitend zurückdrängt. Kriegsapparate werden in keinem kapitalistischen Nationalstaat der Welt aufgerüstet, um Freiheiten zu verteidigen. Sie dienen dazu, den jeweiligen Eliten den Zugriff auf global knapper werdende Ressourcen zu sichern. Nicht zuletzt in der Ukraine hat sich das bewahrheitet: Der Widerstand vieler Menschen gegen die russische Besatzung war legitim und richtig, aber das Bündnis mit der Nato für die Verteidigung von Freiheiten von Anfang an ungeeignet. Imperialen Konkurrenten geht es nicht um Werte, sondern um Interessen.

Während des Vietnamkriegs und während der US-Invasion im Irak 2003 gab es für kurze Zeit eine Kraft, die Internationalismus und Antimilitarismus miteinander verknüpfte. Auch die Proteste zu Gaza liessen diese Dimension zumindest in Nordamerika und Teilen des Globalen Südens aufscheinen. Ein antimilitaristischer Internationalismus, wie er heute notwendig wäre, müsste jedoch breiter angelegt sein und sich nicht nur auf einen Kontext beschränken. Das Ziel muss sein, dem Kriegskapitalismus als solchem Schaden zuzufügen, indem Logistik und Produktion der Militärapparate unterbrochen werden. Seit Ausbruch des Gazakriegs haben sich Hafenarbeiter:innen in Indien, Italien, Grossbritannien und Spanien geweigert, für Israel Kriegsmaterial zu verschiffen. Warum nur im Fall Israels? Es gibt keine guten Staatsarmeen, der Militarismus der Regierenden muss überall als Hauptgegner erkannt werden. Heute, da Politiker:innen den Aufbau einer «Kriegswirtschaft» propagieren und erste Zivilbetriebe auf Rüstungsproduktion umgestellt werden, wäre der Moment, um in und mit Gewerkschaften für praktischen Widerstand zu mobilisieren.

Wenn es ein gemeinsames Interesse der unteren Klassen gibt, dann ist es die Zerschlagung der militärisch-industriellen Komplexe, deren rasantes Wachstum nicht nur mit der multipolaren Welt(un)ordnung, sondern eben auch mit «militarisierter Akkumulation» und Repression nach innen zusammenhängt. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hofften viele, dass eine Niederlage Russlands die Welle der Faschisierung brechen könnte. Inzwischen lässt sich aber kaum noch übersehen, dass der Ausbau der bewaffneten Staatsapparate am Ende nur die Faschisierung im eigenen Land befeuert und jeden Spielraum für soziale und ökologische Politik zerstört.

Mehr Wohnraum, bessere Gesundheitsversorgung, faire Löhne und eine gute öffentliche Infrastruktur statt Bomben – das sind Forderungen, die entlang sozialer statt nationaler Anliegen mobilisieren. Die weltweite Aufrüstungsspirale des multipolaren Imperialismus bedroht überall in der Welt die Lebensgrundlagen von uns allen. Die Kriegs- und Rüstungsapparate – sie sind unser gemeinsamer Gegner. An der Seite der Herrschenden hingegen haben wir nichts zu gewinnen.

Quelle: https://www.woz.ch/2513/globale-linke/ein-antiimperialismus-ohne-idioten/!P7EX1ES9WABR