Deutschlands Rolle im Sudan

Während sich in Deutschland, wie in vielen anderen Ländern Europas, der öffentliche Diskurs in erster Linie um die Themen Flucht und Migration dreht und dabei ständig nach rechts verschiebt, bleiben die größte humanitäre Krise der Welt und die damit verbundenen Fluchtursachen paradoxerweise weitgehend unbeachtet. Seit im Sudan vor zwei Jahren ein Machtkampf zwischen rivalisierenden Militärfraktionen zu einem landesweiten Krieg eskalierte, sind rund 14 Millionen Menschen von der Gewalt vertrieben worden, knapp vier Millionen von ihnen in Nachbarländer. Dreißig Millionen Menschen – fast zwei Drittel der Bevölkerung – sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, fünf Millionen Kinder sowie schwangere und stillende Frauen stark unterernährt, knapp zwei Millionen akut vom Hungertod bedroht. Die Zahl der Todesopfer wird auf über 150.000 geschätzt.

Autor :Roman Deckert

Der humanitäre Hilfsplan der Vereinten Nationen veranschlagte für dieses Jahr 4,2 Milliarden US-Dollar, doch im ersten Halbjahr hat der Fonds noch nicht einmal ein Viertel der Summe erhalten. Das liegt zum einen daran, dass die US-Regierung kurz nach Amtsantritt von Präsident Donald Trump ihre Zahlungen vollständig eingestellt hat. Bis dahin war die mittlerweile abgeschaffte Behörde USAID auch Hauptunterstützerin der sudanesischen Emergency Response Rooms (ERR), die als solidarische Nachbarschaftskomitees in weiten Teilen des Landes die Basisversorgung der Bevölkerung übernommen haben. Zugleich kürzten aber auch andere westliche Staaten wie Deutschland, die Niederlande oder die Schweiz ihre humanitären Budgets massiv. Die größte Geberin ist ohnehin die sudanesische Diaspora mit ihren Überweisungen an die ERRs.

Das Erbe des Kolonialismus

Die Ursachen für den jetzigen Bürgerkrieg sind, ebenso wir für die vielen vorherigen Kriege, komplex. In der Forschung gilt indes als unumstritten, dass der Sudan noch immer unter dem Erbe des Kolonialismus leidet. Die britischen Imperialisten kultivierten einst das Prinzip «Teile und Herrsche», insbesondere nach der blutigen Niederschlagung der egalitaristischen White-Flag-Bewegung im Jahr 1924. In der Folge setzten die Kolonialherren eine Elite aus dem Zentrum des Landes ein, deren Netzwerke die marginalisierten Peripherien bis heute ausbeuten. Deutschland hatte insofern Anteil an der Kolonialisierung, als dass Bismarck und seine Nachfolger die britischen Eroberungspläne massiv unterstützten, um ein Vordringen Frankreichs und Belgiens am Oberen Nil zu verhindern.

Die zweite Hauptwurzel des Bürgerkriegs hat der Friedensforscher Alex de Waal als «Militarisierung des politischen Marktplatzes» bezeichnet. Dabei geht es um das Dilemma, dass im Sudan nur noch jene Akteure Zugang zu Macht und Ressourcen erhalten, die eine schlagkräftige Miliz hinter sich sammeln können. Die Sudanese Armed Forces (SAF) als reguläre Regierungsarmee haben schon seit den 1980er Jahren die Aufstandsbekämpfung an Freischärler ausgelagert und sich auf den Aufbau eigener Geschäftsimperien konzentriert. Der sudanesische Marxist Magdi Elgizouli bezeichnet die Rapid Support Forces (RSF), die von den SAF eigens für die Niederschlagung der Rebellion in Darfur geschaffen wurde, als eine neoliberale Privatarmee mit weitverzweigten Wirtschaftsinteressen.

Es ist daher auch kein Zufall, dass die wichtigsten Kampfvehikel der Milizionäre – Toyota-Landcruiser mit schweren Maschinengewehren – im sudanesischen Volksmund «Thatcher» genannt werden. Und es ist ebenfalls kein Zufall, dass sich der Name der gefürchteten RSF-Vorgänger auf ein westdeutsches Sturmgewehr zurückführen lässt: Laut de Waal und anderen Expert*innen wurden die Dschandschawid-Milizen nach dem G3 von Heckler & Koch benannt. Zahllose Fotos zeigen sowohl die früheren Darfur-Krieger als auch die heutigen RSF-Söldner mit der ehemaligen Ordonanzwaffe der Bundeswehr. Auch der G3-Nachfolger, das G36, ist schon im Sudan aufgetaucht, aufseiten der RSF und sogar in den Händen des SAF-Chefs Abdel Fattah Abdelrahman Burhan höchstpersönlich.

Die Rolle der Bundesrepublik

Die Bilder von deutschen Waffen inmitten der zerstörten Hauptstadt Khartum stehen geradezu symbolhaft für die wichtige Rolle der alten Bundesrepublik bei der Militarisierung des Sudans während des Kalten Krieges, der in der nordostafrikanischen Region als heißer Krieg ausgetragen wurde. Dabei kamen mehrere Faktoren zusammen. Zunächst wollte es der Zufall, dass der Sudan seine Unabhängigkeit am 1. Januar 1956 erlangte – und damit nur wenige Tage nach Ausrufung der Hallstein-Doktrin in Bonn. Die Adenauer-Regierung wollte mit dieser Doktrin die diplomatische Anerkennung der DDR durch jene neuen Staaten verhindern, die gerade ihre Unabhängigkeit vom Kolonialismus erlangten. Der Sudan wurde zum ersten Testfall der neuen Strategie und besaß als «Hinterhof» Ägyptens überdies auch geostrategische Bedeutung.

Bezeichnenderweise war es der Bundesnachrichtendienst (BND), der noch 1957 eine erste Kooperation mit dem sudanesischen Innenministerium einging und kurz darauf eine legale Residentur in Khartum errichtete. Der erste BND-Resident, Erich Olbrück, hatte sein Spionagehandwerk noch im Reichssicherheitshauptamt gelernt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdingte sich der ehemalige SS-Obersturmbannführer, wie viele andere Alt-Nazis, in Ägypten und kam dort etwa auch in Kontakt zu Adolf Eichmanns Deportationsfachmann Alois Brunner. Olbrück organisierte für die sudanesischen Partner Ausbildungsprogramme und lieferte Abhörtechnik für die Überwachung der DDR-Handelsvertretung. Das BND-Engagement lief über dreißig Jahre lang und bildete den Nukleus für den Aufbau des sudanesischen «Sicherheitsapparates», der seither vor allem Unsicherheit verbreitet.

Deutsche Rüstungsexporte in den Sudan gibt es zwar seit dreißig Jahren nicht mehr – doch dafür umso mehr Waffenexporte in die Golfstaaten, die derzeit ihren eigenen Stellvertreterkrieg im Sudan führen.

Olbrück sorgte laut CIA-Akten außerdem dafür, dass das Bundesverteidigungsministerium unter Franz Josef Strauß (CSU) nach dem SAF-Putsch von 1958 zum wichtigsten Rüstungslieferanten des Militärregimes avancierte. Es begann mit dem Bau einer Munitionsfabrik bei Khartum durch die bundeseigene Firma Fritz-Werner, die auch in Ländern wie Iran, Kolumbien, Myanmar (damals Birma) und Nigeria Arsenale errichtete. Kurz nach dem Bau der Berliner Mauer erhielten die SAF ein Rekordpaket an Ausrüstungs- und Ausbildungshilfen im Umfang von 120 Millionen DM. Dabei ging es vor allem um große Mengen an G3-Gewehren und MG1-Maschinengewehren, besser bekannt als «Hitler-Säge», sowie um die Lieferung eines kompletten Fuhrparks mit über 1000 LKWs. Strauß gab intern die Losung aus, den Sudan als regionales Bollwerk gegen Einflüsse aus dem sowjetisch geführten Ostblock aufzubauen und dafür  «den unwahrscheinlichen Ruf des deutschen Soldaten» ins Feld zu führen.

Strauß-Nachfolger Kai-Uwe von Hassel, der die Kontinuitätslinie eines speziell deutschen Militarismus über alle Systemwechsel hinweg verkörperte, pries die Sudanes*innen als «die Preußen Afrikas». Der CDU-Politiker wurde als Sohn eines Offiziers der kolonialen «Schutztruppe» in Deutsch-Ostafrika geboren, der an der genozidalen Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands teilgenommen hatte. Den Kern der Schutztruppe wiederum bildeten sudanesische Söldner. Die Loyalität dieser Askaris diente nach dem Ersten Weltkrieg als ein wichtiges Argument der revanchistischen Kolonialbewegung, sodass sogar Hitler sie in «Mein Kampf» erwähnte. Als der Schutztruppen-General Paul von Lettow-Vorbeck 1964 starb, ließ von Hassel für die Beerdigungsfeier zwei ehemalige Askaris einfliegen. Er selbst erklärte von Lettow-Vorbeck, dessen Feldzüge Hunderttausende das Leben gekostet hatten, in seiner Trauerrede zum Vorbild für die Bundeswehr.

Die Bürgerkriege

Selbst nach dem Ende der Hallstein-Doktrin 1969 ging die Aufrüstung weiter, obwohl die Rebellion im Südsudan eskalierte und die SAF nach dem Prinzip der verbrannten Erde vorgingen. Die Aufständischen kämpften dank israelischer Unterstützung ebenfalls mit deutschen Waffen, die aus Wehrmachtsbeständen in Osteuropa stammten, die die Hagana 1948 im Rahmen der Operation Balak erlangt hatte. Der Bürgerkrieg forderte bis zu seinem Ende 1972 mindestens eine halbe Million Todesopfer. Die sozialliberale Koalition gab sich zwar in Bezug auf Rüstungsexporte zurückhaltender als ihre Vorgängerregierungen, doch ein erheblicher Teil der Geschäfte wurde nunmehr indirekt, über Saudi-Arabien, abgewickelt. Auf diesem Umweg erhielten die SAF westdeutsches Kriegsmaterial im Wert von Hunderten Millionen DM, wieder vor allem G3-Gewehre und Militär-LKWs. Es ist daher alles andere als Zufall, dass der erste Schuss, der 1983 den Zweiten Bürgerkrieg im Südsudan auslöste, aus einem G3 abgefeuert wurde. Die DDR rüstete über Äthiopien ihrerseits die Rebellen mit Kalaschnikows aus. Rund zwei Millionen Menschen verloren bis 2005 ihr Leben.

Die Tatsache, dass es sich bei den beiden ersten sudanesischen Bürgerkriegen auch um deutsch-deutsche Stellvertreterkriege handelte, soll nicht den Blick auf sudanesische Eigenverantwortung verdecken. So zeigt etwa der Spielfilm «Goodbye Julia», der kurz nach Ausbruch des Krieges als erste Produktion aus dem Sudan in Cannes Premiere feierte, eindringlich einige Hauptprobleme der sudanesischen Gesellschaft: tief verinnerlichte Rassismen in der unseligen Tradition des Sklavenhandels, zutiefst konservative und radikal islamistische Wertvorstellungen, toxische Maskulinität und Patriarchat. Dennoch lässt es sich schlechterdings nicht abstreiten, dass die Militarisierung des Sudans auch ein Erbe des deutschen Militarismus ist.

Deutsche Rüstungsexporte in den Sudan gibt es zwar seit dreißig Jahren nicht mehr – doch dafür umso mehr Waffenexporte in die Golfstaaten, die derzeit ihren eigenen Stellvertreterkrieg im Sudan führen. So genehmigte die Ampelkoalition 2024 Lieferungen im Umfang von fast 150 Millionen Euro an die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), obwohl diese der wichtigste Unterstützer der RSF sind. Der SAF-Hauptsponsor Saudi-Arabien wiederum erhielt grünes Licht für Rüstungskäufe in ähnlichem Umfang. Katar, das ebenfalls mit den SAF verbündet ist, erhielt 2024 über 100 Millionen Euro und im ersten Quartal dieses Jahres Genehmigungen im Wert von rund 166 Millionen Euro. Wie wenig man hier auf vereinbarte Endverbleibsregelungen vertrauen kann, belegen die Hinweise darauf, dass französische Militärtechnologie über die VAE an die RSF weitergereicht wurde.

«Dubai ist wie Du», lautet der Slogan einer aktuellen Tourismuskampagne, die für Linke beleidigend wirken muss. Er entlarvt indes die westliche Komplizenschaft mit den VAE, die auch in anderen Ländern Afrikas einen Neo-Imperialismus betreiben. Es sind nicht nur Instagram-Influencer*innen, «Die Geissens» auf RTL2 oder der HSV mit seinen Trikots, die das Luxusleben zwischen Lamborghinis, Mega-Yachten und Glitzerhochhäusern im Golfemirat als Ideal des Spätkapitalismus bewerben. 2022 vereinbarte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz bei einem Besuch in Abu Dhabi nicht weniger als «die Revitalisierung der Strategischen Partnerschaft», obwohl die VAE im Vorjahr eine treibende Kraft hinter dem Putsch von SAF und RSF gegen die zivile Übergangsregierung des Sudans gewesen war. Aus dem grün geführten Auswärtigen Amt war hernach zu vernehmen, dass man hinter verschlossenen Türen versucht habe, den strategischen Partner in Sachen Sudan zu beeinflussen. Diese Art der feministischen Diplomatie blieb offensichtlich erfolglos.

Die sudanesische Sozialistin Muzan Alneel betont, dass nur die Sudanes*innen selbst den Sudan retten können; sie hebt aber auch hervor, dass internationale Solidarität dabei helfen könne. Die Linke in Deutschland kann diesen Kampf der sudanesischen Zivilgesellschaft für einen gerechten Frieden unterstützen, indem sie die eklatante Widersprüchlichkeit der deutschen Außenpolitik aufzeigt. Sie sollte sich darüber hinaus grenzübergreifend zum Sudan vernetzen, denn Deutschland ist – bei allen höchsteigenen Sonderwegen – nur einer von vielen Staaten in der Festung Europa, die sich von den Petrodollars der Golfmonarchien zum Whitewashing vereinnahmen lassen.

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