OM10: Gegen die Kriminalisierung linksradikaler Politik – für eine solidarische Gesellschaft

Lassen wir uns in unseren Bewegungen linksradikale Politik verbieten?
Sicherlich nicht. Doch genau das will der niedersächsische Innenminister
Boris Pistorius am Beispiel der Antifa aktuell untersuchen. Trotz
Definitionsproblemen bezüglich der Antifa soll nun eine Sammelbewegung
kriminalisiert werden, die sich gegen den Nationalsozialismus und sein
Erbe richtet! Und dies angesichts der zunehmenden rassistischen und
antisemitischen Übergriffe, wie den Angriffen und Morden in Halle und
Hanau oder der faschistischen Strukturen in staatlichen Behörden. An
diesem sowie zwei lokalen Beispielen aus den Bereichen Antirassismus und
Wohnungspolitik wollen wir zeigen, wie in Verkehrung der Verhältnisse
die Kriminalisierung linksradikaler Politik im Raum Göttingen
vorangetrieben wird. Es liegt an uns, aktiv zu bleiben und den Fokus
weiter auf das gewaltförmige System zu lenken.

*** Tobendes Meer, erfrierende Menschen, mörderische Frontex ***

Graffitis in Göttingen zeigen das tobende Meer, Menschen, die gegen das
Ertrinken ankämpfen, schwimmende Rettungsringe von vielleicht schon
Ertrunkenen? Die Graffitis an unterschiedlichen Wänden in Göttingen
machen auf die perfide europäische Politik an den EU-Außengrenzen
aufmerksam. Die Göttinger Polizei sieht diese Kunstform als Straftat mit
politischem Hintergrund und es fällt ihnen nichts Anderes ein, als den
Staatsschutz ermitteln zu lassen. Es werden nun also Künstler_innen
kriminalisiert, die aufzeigen, wie Geflüchteten im Mittelmeerraum ihre
menschliche Würde verweigert und sie auf alle Arten entrechtet werden?
Eine Aufgabe der Kunst ist es, die Politik und Gesellschaft zu
betrachten, Menschen zu erreichen und zu sensibilisieren. Wo kann
öffentlicher auf die grausame europäische und deutsche
Flüchtlingspolitik aufmerksam gemacht werden als auf grauen Mauern einer
Innenstadt? Dies ist keine Straftat. Verbrechen hingegen ist es,
Menschen das Recht auf einen angemessenen Asylantrag zu verwehren, wenn
sie aufgrund der Ausbeutung und Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch
multinationale Konzerne, ausbeuterischer Freihandelsabkommen,
zerstörerischer Kriege und deutscher Rüstungsgeschäfte fliehen müssen.
Es ist ein Verbrechen, dass deutsche Polizist_innen zusammen mit Frontex
und der durch die EU finanzierten libyschen Küstenwache Schlauchboote
von Geflüchteten zerschießen, sie illegal über Grenzen durch den Einsatz
von Waffen und Hunden zurückdrängen oder Geflüchtete an der
Euro-Außengrenze verhungern oder erfrieren lassen. Wir verändern das
Zitat des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius nur um wenige
Worte: „Wir stellen in […] [der EU] eine starke Radikalisierung der […]
[militärischen Abschottung an den EU-Außengrenzen] fest, die sich zu
einer terroristischen Struktur entwickelt“. Die treibenden Kräfte in der
Politik der Abschottung, des aktiven Tötens, des Sterbenlassens und des
Abschottens gehören kriminalisiert!

*** Immobilienhaie, explodierende Mieten und Massenunterkünfte ***

Es wird ein Banner an das Gothaer-Haus in der Göttinger Innenstadt
gehängt. Seit über 10 Jahren stehen 13 000 qm Nutzfläche mit 2400 qm für
Mietwohnungen im Gothaer Haus in der Göttinger Innenstadt leer. Trotz
des ausbleibenden Sozialwohnungsbaus, explodierenden Mieten und sozialer
Verdrängung in sogenannte „soziale Brennpunkte“ wie die Groner
Landstraße 9, 9a, 9b oder das Iduna Zentrum, plant der Besitzer
Development Partner AG Düsseldorf unter dem Schutzmantel der Stadt
Göttingen das Gothaer-Haus abzureißen und ein neues, luxuriöses Wohn-
und Geschäftshaus zu errichten. Auch hier wird die altbekannte verfehlte
Wohnungspolitik fortgeführt. Mit einer Transparentaktion wurde auf
diesen Missstand aufmerksam gemacht. Die Göttinger Polizei sieht dies
als eine politisch motivierte Straftat und lässt auch hier den
Staatsschutz ermitteln. Es werden wieder Aktivist_innen kriminalisiert,
die aufzeigen, wie die Stadt Göttingen den sozialen Wohnungsbau für
Geflüchtete und Obdachlose seit Jahren verweigert. Dieses Versäumnis und
der gleichzeitige skandalöse Leerstand, während Menschen auch in
Deutschland und Göttingen in Massenunterkünften leben, sollte als
politisch motiviertes Verbrechen behandelt werden. Es muss
kriminalisiert werden, wenn Häuser Jahrzehnte lang für private
Profitinteressen leer stehen und von einem Privatinvestor zum nächsten
verkauft werden. Es muss kriminalisiert werden, wenn Leerstand oder die
Wohnraumversorgung dem Markt überlassen wird und dadurch eine soziale
und räumliche Exklusion von marginalisierten Personengruppen erzeugt
wird. Es ist eine legitime Sachbeschädigung, wenn Aktivist_innen durch
Transparentaktionen fordern, dass Wohnraum in öffentlicher Hand und
unter demokratischer Kontrolle verwaltet wird. Eine illegitime
Sachbeschädigung ist es vielmehr, wenn Miethäuser trotz stärkster
Sanierungsbedürftigkeit für Profitinteressen der Eigentümer verwahrlost
werden. Es ist nicht das moralische Fehlverhalten Einzelner, dass eine
Kehrtwende der Wohnungspolitik in Göttingen ausbleibt. Es ist die
kommunale Politik, die den Wohnungsmarkt dem Wettbewerb für die höchsten
Renditen überlasst.

*** antisemitische und rassistische Morde, faschistische Behörden ***

Als wäre die Kriminalisierung linken Aktivismus auf der lokalpolitischen
Ebene Göttingens nicht genug. Jetzt möchte Pistorius, angestoßen durch
den „Bund deutscher Kriminalbeamter“, prüfen, ob sich antifaschistische
Gruppen verbieten lassen. Abgesehen davon, wer überhaupt die Antifa
sein soll, klären antifaschistisch motivierte Kräfte seit Jahren über
rassistische und antisemitische Gewalt auf. So leistet unter anderem
auch hier in Göttingen das Antifaschistische Bildungszentrum und Archiv
Göttingen e.V. wichtige Arbeit dabei, einen Überblick über rechte
Strukturen und Ideologien im Kreis Göttingen zu verschaffen. Anstatt
diese Arbeit zu unterstützen, wird ihre Aufklärungsarbeit von
staatlichen Stellen und Institutionen erschwert oder gar politisch
verhindert. Nicht die Antifa sollte hier kriminalisiert werden, sondern
das Verhalten auch auf staatlicher Ebene, diese Aufklärungsarbeit zu
behindern. Kriminalisiert gehört, dass die Aufklärung rassistischer
Morde, wie die der NSU oder der Polizei an Oury Jalloh, Adem Özdamar und
Jendrik Thiel durch staatliche Behörden blockiert werden. Die
Verharmlosung der mordenden Rassisten in Halle und Hanau durch
staatliche Behörden als Einzeltäter müssen kriminalisiert werden.
Faschistische Netzwerke in deutschen Behörden müssen entlarvt und
kriminalisiert werden.

*** Die rhetorische Frage nach dem Warum ***

Warum all die Kriminalisierungsversuche durch den Staat? Das ist für die
linksradikale Bewegung eine rhetorische Frage. Aber wenn wir wollen,
dass sich Menschen mit linksradikalen Bewegungen solidarisieren, müssen
wir die Kriminalisierung des linken Aktivismus erklären. Der
kapitalistische Staat hat gewiss kein Interesse daran, seine autoritäre,
imperialistische und rassistische Politik im inneren und äußeren
Deutschland transparent zu machen. Der kapitalistische Staat möchte
keine Graffitis in den Innenstädten Deutschlands haben, die auf die
europäische Abschottungspolitik aufmerksam macht. Vielmehr will dieser
Staat jenseits des öffentlichen Auges die Abschreckungspolitik
weiterführen, mit der Hoffnung, dass weniger Geflüchtete nach Europa
kommen. Ebenfalls hat der neoliberale Staat kein Interesse an einer
fairen Wohnraumpolitik, denn er folgt der Gewinnerwirtschaftung der
Eigentümer_innen und Investor_innen. Um sich selbst zu erhalten, muss
schlussendlich der Staat die Antifa, als Synonym für linksradikale und
antikapitalistische Bewegungen, verbieten. Denn sie ist tatsächlich eine
Bedrohung für den kapitalistischen Staat. Sie entlarvt die Perfidität
unseres politischen und wirtschaftlichen Systems und möchte dieses
überwinden. Sie zeigt auf, dass das neoliberale kapitalistische
Wirtschaften Deutschlands für die vielfältigen humanitären Krisen
verantwortlich ist. Aus dem Aspekt der Selbsterhaltung des Staates gibt
es keine andere Möglichkeit, als die der Verschleierung der Brutalität
des Systems durch die Kriminalisierung des linken Aktivismus. Es scheint
wie ein verzweifelter Akt, die zerfallende Gesellschaft in ihrer
vermeintlichen Blindheit, durch die Verdrängung linker Diskurse aus der
Öffentlichkeit, verhaften zu lassen. Nur so lässt sich die politische
Ordnungsvorstellung, die Macht des kapitalistischen und
unterdrückerischen Staates und die Profite der Privilegierten durch
fortwährende imperiale Ausbeutung, rassistische Ausgrenzung und den
Schutz der Großkapitalien absichern.

Doch wir lassen uns weder einschüchtern, noch verdrängen. Lasst uns
jeden Tag die Gewalt unseres Systems entlarven und die
Handlungsfähigkeit der dahinterliegenden Politik erschweren. Lasst uns
aufzeigen, dass eine andere und solidarische Gesellschaft möglich ist!

4. Februar 2021, OM10


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