„Wenn Israel die Bodenoffensive beginnt, wird das eine Katastrophe werden“

Moshe Zuckermann

Gespräch über die vorherrschenden Rachegefühle, die Besuche von Scholz und Biden, die dysfubktionale Regierung, die anstehende Bodenoffensive und fehlende Kriegsperspektiven.
Schön, dass du Zeit hast, wieder ein Gespräch mit mir zu führen. Soweit ich sehe, gibt es noch immer gelegentlich Raketenalarm in Tel Aviv auf.
Moshe Zuckermann: Ja, wir hatten vorhin wieder einen und ich möchte dir auch gleich sagen, sollte es jetzt einen Raketenalarm geben, dann verziehe ich mich in den Luftschutzraum und komme dann nach fünf Minuten zurück. Dann können wir weitermachen.
Nur fünf Minuten?
Moshe Zuckermann: Eigentlich offiziell zehn Minuten, aber nach fünf Minuten haben wir alle dort keinen Bock mehr und dann gehen wir, also in dem Moment, in dem man den Krach hört, wenn eine Iron Dome-Abwehrrakete zugeschlagen oder es einen Treffer seitens der Hamas gegeben hat, ist man mehr oder weniger durch.
Wenn nur wenige Raketen kommen, werden die doch abgeschossen? Oder kommen da doch auch einzelne durch?
Moshe Zuckermann: Ja, es kommt auch hier und da vor, dass man die nicht trifft, aber ich glaube, es gibt im Moment eine Erfolgsquote von 80 Prozent bis 90 Prozent. Daher sind wir relativ geschützt. Das muss man schon sagen.
Jetzt ist der 11. Tag Krieg in Israel, der natürlich jetzt auch andere Kriege überschattet. Ukraine ist ganz im Hintergrund verschwunden. Wie ist denn die Stimmung in Israel? Ist da noch immer stark Rache-Gedanke vorhanden?
Moshe Zuckermann: Der wird immer stärker. Ich rede jetzt nicht von denjenigen, die ein Familienopfer haben. Die hört man zwar auch, aber sie sind weniger präsent als vor einer Woche. Man hat den ersten Moment des Schocks hinter sich, weil es jetzt den Krieg gibt und das Militär in Gang gesetzt worden ist. Der Rache- oder der Vergeltungsgedanke blüht und gedeiht. Im Moment ist es wirklich schlimm, weil die Bombardierungen der israelischen Luftwaffe im Gazastreifen mittlerweile schon tausende Opfer verursacht haben und vor allem, weil kein Ende abzusehen ist. Es wird versucht, Gaza dem Erdboden gleich zu machen, damit die Bodentruppen reingehen können und auf keinen großen Widerstand treffen. Und das schafft natürlich eine humanitäre Krise.
Als gestern US-Präsident Biden in Israel war und gesagt hat, dass die humanitäre Krise abgefangen werden müsse, indem Israel Hilfe zulässt, gab es einen Aufschrei sowohl in der Regierung als auch unter der Bevölkerung. Nein, auf keinen Fall soll es Hilfe für die wirklich Geschundenen dort geben. Es sind ja nicht nur Hamas-Leute betroffen, sondern die gesamte Zivilbevölkerung. Aber die israelische Bevölkerung ist im Moment überhaupt nicht auf Mitleid oder Mitgefühl eingestellt.
Das heißt, die uneingeschränkte Solidarität, die jetzt vom westlichen Ausland gleichzeitig mit der Forderung nach humanitärer Hilfe für die Gaza-Bevölkerung kommt, geht für die meisten Israelis nicht zusammen?
Moshe Zuckermann: Das geht nicht zusammen und das bildet in der Tat auch ein Dilemma für die Regierung von Netanjahu. Auf der einen Seite hat Biden eindeutig gesagt, ihr bekommt unsere Unterstützung und unsere Solidarität. Er hat wirklich den zionistischsten Besuch hier absolviert, den man sich überhaupt denken kann. Übrigens hat er auch viel mehr Mitgefühl mit den Menschen als Netanjahu gezeigt, der im Vergleich zu Biden ein kalter Fisch ist. Biden war wirklich fähig, auch Empathie zu bezeugen, aber er hat politisch zugesagt, dass Israel Unterstützung erhält, aber dafür sorgen muss, dass es auch den Versuch unterstützt, die humanitäre Krise zu bewältigen. Und das bedeutet vor allem, dass aus dem Süden, also von Ägypten aus, Hilfe in den Gazastreifen gebracht wird.
Offenbar wurde ausgemacht, dass gerade einmal 20 Lastwagen aus Ägypten hereingelassen werden sollen. Man liest allerdings, dass dies noch nicht geschehen ist. Es gab einen großen Aufschrei von den Familienangehörigen der Entführten, dass überhaupt Hilfe geleistet werden soll. Und wie würdest du denn dazu Stellung nehmen?
Moshe Zuckermann: Natürlich muss man humanitäre Hilfe leisten. Die Tatsache, dass Israel diese Katastrophe erlebt hat, sollte Israel jetzt nicht dazu führen, dass die Verrohung, die es auf der anderen Seite gegeben hat, jetzt auf Israel übergeht und dass dann Israel anfängt, nicht nur selber neue Opfer zu schaffen, sondern auch Hilfe, die der zivilen Bevölkerung auch völkerrechtlich zukommen muss, zu verhindern. Das ist doch das Minimum, das man einfordern kann. Die Leute, die so reagieren, sowohl in der Regierung, aber vor allem auch in der Bevölkerung, wie das in den sozialen Medien geschieht, denken nicht rational, sondern empfinden aus dem Bauch heraus dieses Rachegefühl oder diesen Rachedurst, wie man sagen muss, und sind von daher auf Vergeltung aus. Man hört beispielsweise, wenn jemand sagt, dass aber eine ganze Menge Kinder umgekommen ist, die Antwort, es sei schade, dass nicht alle Kinder umgekommen sind, oder es sei gut, dass sie jetzt umgekommen sind, dann wird in der Zukunft weniger Terroristen geben.
Die Rhetorik, die es in der Öffentlichkeit gibt, ist teilweise schrecklich. Man kann es allerdings auf der einen Seite verstehen, weil Israel im Krieg ist und weil das, was am 7. Oktober passiert ist, die Menschen schockiert hat. Aber man kann, wenn man solche Fragen wie du stellt, auch erwarten, dass die Leute aus einem liberalen, aufgeklärten Zugang heraus, das zumindest zulassen müssten. Die Hauptparole ist jetzt im Moment, Hamas muss vernichtet werden, deshalb darf auf keinen Fall humanitäre Hilfe gegeben werden, denn das könnte ja bedeuten, dass man damit auch Hamas hilft. Das ist mehr oder weniger der Tenor der Reaktion.
Es war jetzt großer Aufregung über das Krankenhaus in Gaza-Stadt. Man weiß nicht, woher die Rakete kam. Israel sagt, es sei eine Rakete des Islamischen Dschihad gewesen, Hamas sagt, es sei eine israelische Rakete gewesen. Aus den Materialien, die die israelische Armee vorgelegt hat, könnte es wohl eher eine heruntergefallene Rakete des Islamischen Dschihad gewesen sein. Aber es scheint auch ganz egal zu sein, wer es wirklich war. Die Erregung in der arabischen Welt geht davon aus, dass es eine israelische Rakete war. Damit hat die Hamas erreicht hat, dass die Solidarität der arabischen Welt hinter ihr oder den Palästinensern im Gazastreifen steht. Siehst du das auch so?
Moshe Zuckermann: Die Solidarität war von vornherein gegeben. Schon an dem Tag, als diese Katastrophe stattgefunden hat, haben sich viele in der arabischen Welt mit Hamas solidarisiert und auf den Bildern, die man gesehen hat, diese zum großen Teil auch bejubelt. Auch das Pentagon, wie man von Biden gestern gehört hat, hat eine Untersuchung gemacht und gesagt, dass es vermutlich ein Fehlschuss des Dschihad gewesen ist. Aber du hast vollkommen recht. Es ist insofern egal, das es auf jeden Fall eine Katastrophe ist. Hunderte von Kinder und Kranken sind umgekommen. Wenn man anfängt zu sagen, wer schuld und wer nicht schuld ist, könnte man die gesamte Geschichte der Waffengänge von Israel und den Hamas oder den Palästinensern verweisen. Es ist nicht das erste Mal, dass Israel auch Gebäude oder Orte getroffen hat, wo Dutzende, wenn nicht Hunderte von Menschen umgekommen sind. Man kann nicht ganz ausschließen, dass es die Israelis waren, obwohl es, was die Realität anbelangt, vermutlich eine Dschihad-Rakete gewesen ist.
Aber das Problem besteht eben darin, dass die Israelis sagen, dass jetzt die Handschuhe ausgezogen sind. Wir machen keine chirurgische Eingriffe mehr, sondern wir wollen wirklich flächenmäßig Gaza bombardieren. Das bedeutet auch, dass es dabei, wie man es in Israel nennt, Kollateralschaden gibt, wenn die Menschen es nicht schaffen zu fliehen. Die Frage nach dem Schuldigen bei dem Krankenhaus ist eine spezielle Frage, aber dass man jetzt die Schuldzuweisung zum Hauptthema gemacht hat, ohne zu sagen, dass die gesamte Situation pervers ist, scheint mir das Hauptproblem bei der ganzen Angelegenheit zu sein. Vermutlich war es ein Fehlschuss des Dschihad, aber mir tun diese Babys und Kinder in meiner Seele leid, die in dem Krankenhaus ihr Leben verloren haben.
Eigenartig ist, dass die eigentlich für letztes Wochenende angesagte Bodenoffensive noch nicht begonnen wurde. Es wurde mal gesagt wegen Wetterbedingungen, aber das ist sicher Unsinn. Es waren sicher andere Gründe. Gibt es da Vermutungen?
Moshe Zuckermann: Du weißt ja, ich bin nicht vom Geheimdienst und habe die Informationen nicht. Aber was ich sagen kann, dass wir das auch so in den Medien vermittelt bekommen haben. Dann war Biden hier zu Besuch, weswegen man gesagt hat, dass während seines Besuchs nichts passiert. Interessanterweise haben auch die Hamas an diesem Tag kaum geschossen. Kaum war er jedoch abgeflogen, gab es einen Beschuss von Tel Aviv. Heute ist Rishi Sunak da. Vorher war Scholz hier. Bei solchen Staatsbesuchen überlegt man zweimal, ob man anfangen soll, weil die Regierungschefs dann in Verlegenheit kommen. Wenn Israel die Bodenoffensive beginnt, wird das eine Katastrophe werden, das kann ich dir jetzt schon sagen. Du kannst schon unser nächstes Gespräch in dem Moment planen, an dem die Bodenoffensive beginnt. Aber solange die Vorbereitung durch die Luftwaffe noch nicht ganz erledigt ist und die Menschen aus dem Nordteil des Gazastreifens weg sind, wird es keine Bodenoffensive geben.
Seltsam war, dass nach der Aufforderung, dass alle Bewohner in den Südteil fliehen sollen, um sicher zu sein, der Süden weiterhin bombardiert wurde.
Moshe Zuckermann: Man hat den Menschen gesagt, sie sollten vom Nordteil in den Süden gehen, weil man die Bodenoffensive von dort beginnen und freie Hand haben will. Wenn aber aus dem Süden jetzt auch Angriffe kommen, reagiert natürlich die Luftwaffe und bombardiert zurück. Wir sollten aber jetzt nicht mit der Stoppuhr warten, wann es anfängt. Die Bodenoffensive wird kommen. Ich hoffe zwar noch immer, dass sie nicht kommen wird, aber sie wird kommen, weil man sich vorgenommen hat, die Hamas so zu schlagen, dass sie nicht wieder aufstehen kann. Das maximale Ziel, das man sich gesetzt hat, dass die Hamas ganz vernichtet wird, wird man nicht erreichen, aber man will eben Hamas in die Knie zwingen. Allerdings hat man es nicht allzu eilig, weil man noch immer die Rückendeckung der für Israel wichtigen Länder hat. Von daher hält noch an, was der 7. Oktober bewirkt hat.
Wenn die Bodenoffensive beginnt, dann könnte die Solidarität der westlichen Staaten bröckeln.
Moshe Zuckermann: Das ist garantiert. Denn das wird ein Blutbad werden. Wenn die reingehen, wird es natürlich Widerstand am Boden geben. Und besonders wenn die Soldaten in die Tunnels gehen, wird es zu Begegnungen kommen, wie man das nur von regionalen Kriegen etwa bei der Eroberung von Ostjerusalem seinerzeit gekannt hat. Das wird ein Blutbad auf beiden Seiten geben.
Jetzt sind an die 300.000 Reservisten mobilisiert worden. Steht denn das Militär hinter der Notstandsregierung oder hinter Netanjahu? Oder ist da immer noch ein Vertrauensverlust vorhanden?
Moshe Zuckermann: Das Problem besteht darin, dass im Moment das Militär total schweigt. Auch eine ganze Menge von den Piloten, die gesagt haben, dass sie nicht mehr zu den Reserveübungen kommen, sind natürlich jetzt da. Man muss überhaupt sagen, dass viele aus der Protestbewegung mittlerweile fast die Funktion der Regierung übernommen haben, indem sie zivilgesellschaftliche Dienstleistungen und Organisation übernommen haben, während die Regierung total dysfunktional ist. Im Moment gibt es zwischen Gallant und Netanjahu, wie man hört, Spannungen, aber vom Militär selbst kann man im Moment nichts hören. Das darf man ja auch nicht. In Kriegszeiten kann das Militär nicht anfangen, gegen die Regierung zu stänkern. Das ist global so. Aber es wird noch ein Riesenproblem geben. Jetzt zeichnet sich ab, dass Netanjau und seine Regierung, die sehr wohl wissen, dass es auf ihr Ende zugeht und sie zur Verantwortung gezogen werden, anfangen, die Schuld auf das Militär abzuwälzen.
Die Militärs, der Generalstabschef, auch die Geheimdienstchefs und andere haben gesagt, dass sie die Verantwortung übernehmen. Von Netanjahu hat man das noch nicht gehört. Er übernimmt überhaupt keine Verantwortung. Auch nicht die Leute um ihn herum. Als Netanjahu gefragt wurde, ob er die Verantwortung für das übernimmt, was am 7. Oktober passiert ist, antwortete er, was mittlerweile schon ikonisch und legendär geworden ist: „Ich habe von dieser Sache erst am 7. Oktober um 6 Uhr 29 erfahren.“ Um 6 Uhr 30 war die erste Rakete geflogen, also eine Minute vorher. Das ist natürlich der totale Scheiß. Das kann er versuchen, seinen Anhängern zu sagen, aber auch die stehen nicht mehr ganz hinter ihm. Das ist ein Mann, der verkommen ist. Es gab heute ein Bild. Als Biden am Flughafen von Netanjahu und dem Staatspräsidenten empfangen worden ist, sieht man, wie Netanjahu seinen Arm auf Isaac Herzog legt, im Sinne von: Wage es nicht vor mir, ich bin der Erste. Zu Recht hat heute jemand geschrieben, das sei Grunde das Bild des gesamten Netanjahu und seiner Amtsperiode: Er und er und er. Da weiß man, mit wem man es zu tun hat.
Es gab heute in der Süddeutschen Zeitung einen Kommentar von dem israelischen Historiker Amir Teicher, der schrieb, dass im Grunde genommen der ganze Staatsapparat in Israel zusammengebrochen sei. Du hast auch vorher gesagt, dass viel selbstorganisiert wird. Kann man denn das sagen, dass der Staatsapparat praktisch zusammengebrochen ist?
Moshe Zuckermann: Er ist nicht so zusammengebrochen, dass es die Behörden nicht mehr gibt, aber sie funktionieren nicht. Beispielsweise ist eine große Frage: Was passiert mit den Leuten, die aus den Ortschaften und Kibuzzim an der Grenze zu Gaza geflüchtet sind bzw. evakuiert wurden? Wie kommen sie zu ihren Geldern, damit sie sich organisieren können? Was macht der Staat, um das zu finanzieren und so weiter? Da spricht man gegen eine Wand. Die Bürokratie ist schon da wie eh und je, aber es gibt einen extremen Notstand, in dem sich diese Leute befinden. Und das betrifft nicht nur sie, es sind eine ganze Menge Sachen, die im Moment einfach nicht funktionieren. Es ist wirklich eine dysfunktionale Regierung, das muss man so sagen. Das hängt auch damit zusammen, dass Netanjahu im letzten Jahr die meiste Zeit darauf verwendet hat, sich selber zu positionieren, vor allem in seinem Prozess, und dass er um sich wirklich einen Haufen von Armleuchtern versammelt hat, die wirklich unfähig sind. Deshalb funktionieren auch die Behörden nicht.
Gibt es Vertrauen in die Notstandsregierung mit Gantz und den anderen?
Moshe Zuckermann: Weil (die ehemaligen Generalstabschefs) Gantz und Eisenkrot der Regierung angehören, sind die Menschen beruhigter, als wenn es nur Netanjahu und seine Gruppe wären, weil die erstens wirklich Interessen geleitet sind und zweitens die ganze Zeit so unverantwortlich waren, dass man sich fragt, ob die einen Krieg überhaupt bewältigen könnten? Also mit Gantz und Eisenkrot zusammen mit dem Verteidigungsminister Gallant ist er jetzt umgeben von Leuten, die fähig sind, mit so einem Krieg umgehen zu können. Das hat die Bevölkerung beruhigt. Es hat aber lange gedauert, bis er das zugelassen hat. Man sagt sogar, dass seine Netanjaus Frau Sarah dagegen war, dass diese Leute reinkommen, weil das dazu führen könnte, dass seine Regierung früher oder später gestürzt wird oder diese Leute ihm in den Rücken fallen. Wir reden hier in Kategorien aus der dritten oder vierten Welt. Das ist wirklich teilweise eine Bananenrepublik. Und dann muss man wirklich auch herausstellen, was du von Teicher erzählst, dass gerade die Zivilgesellschaft eine ganze Menge leistet und sich auch aufopfert.
Bundeskanzler Scholz war als einer der ersten in Israel, er hat es nicht ganz geschafft ganz vorne zu sein, weil der rumänische Regierungschef kurz vor ihm in Israel war. Es fängt jetzt diese Pilgerschaft an, wie wir es schon aus der Ukraine kennen, dass jeder in Israel gewesen sein muss. Ist es wirklich Solidarität? Ist es eher Eigeninteresse, dass man mutig war, da hinzugehen? Aber jetzt auf Deutschland beschränkt. Gibt es denn innerhalb der israelischen Gesellschaft bestimmte Erwartungen an Deutschland?
Moshe Zuckermann: Der Haupt-Protagonist hier ist natürlich Biden mit seinem Besuch und der Militärunterstützung mitsamt der Drohung mit den Flugzeugträgern als Botschaft an die Hisbollah und an Iran gewesen. Ich muss sagen, dass der Besuch von Scholz hier mehr oder weniger unbeachtet vorbeigegangen ist. Ich habe vielleicht irgendwo ein Foto gesehen, aber kann ich keine Berichterstattung darüber, was da gesagt worden ist.
Scholz hatte ja auch Pech, weil der Krankenhausvorfall in Gaza-Stadt an dem selben Abend stattgefunden hat. Das hat natürlich alles andere überdeckt.
Moshe Zuckermann: Scholz musste sich auch gleich sagen lassen, dass die Hamas die neuen Nazis sind. Netanjahu hat sofort diese Schwachstelle der Deutschen benutzt. Das musste Scholz über sich ergehen lassen. Ich bin froh, dass es diesmal keine Besuche in Yad Vashem gegeben hat, das hätte noch gefehlt. Heute ist der englische Premierminister angekommen. Da gab es auch ein paar Bilder. Aber ich glaube, man kann im großen Ganzen sagen, die Erwartungen an diese Leute sind diplomatisch im Sinne, ihr müsst uns unterstützen. Die materielle Unterstützung und auch die gewichtige diplomatische Unterstützung wird von den USA gar nicht irgendwie erwartet, sondern die USA leistet sie selber. Biden ist für heute der begeistertste Zionist, den ich kenne. Das hätte wirklich in den Hochzeiten des Zionismus geschrieben werden können.
Vielleicht ist er vielleicht auch gar nicht so unfroh darüber, weil nun die Ukraine ein bisschen in den Hintergrund rückt und er ja in den Wahlkampf geht.
Moshe Zuckermann: Er braucht das für seinen Wahlkampf. Aber ich möchte nicht ganz so zynisch sein. Ich glaube, er war wirklich bewegt. Als er beispielsweise die Familienangehörigen der Entführten getroffen hat, sagten diese, sie hätten gespürt, dass von ihm eine menschliche Wärme ausgegangen ist. Er hat sie auch alle umarmt. Es ist nicht selbstverständlich, dass ein amerikanischer Präsident mitten im Krieg hierher kommt, sich Militärdebatten anhört und dann zu Menschen zu geht und sie tröstet. Übrigens ist das besonders deswegen auffällig, weil Netanjahu nichts von dem selber gemacht hat. Der Präsident von diesem Land ist bis zum heutigen Tag nicht fähig, zu diesen Menschen zu gehen. Der amerikanische Präsident hat es gemacht und er wirklich seine Menschlichkeit ausgestrahlt. Er ist schon ein alter Mann und vernuschelt, aber er hat eine Menschlichkeit ausgestrahlt, zu der keiner der israelischen Politiker heute fähig ist.
Es heißt ja auch, dass die israelischen Minister nicht mal zu den Begräbnissen gehen, was offenbar auch die Kritik an der Bevölkerung hervorwirft.
Moshe Zuckermann: Sie wissen auch, warum sie nicht gehen. Sie wissen, dass sie dann mit Vorfällen zu rechnen haben, die für diese Minister sehr peinlich sind. Das sind Leute, die wirklich versagt haben. Und die israelische Bevölkerung sieht das heute. Man redet noch nicht von Abwahl. Die wissen alle, dass ihre Zeit gezählt ist.
Noch mal zurück zur Deutschland. Du weißt ja, oder vielleicht hast du es auch mitgekriegt, es wird hier natürlich darüber geredet, wie Deutschland Israel helfen müsste und im Ernstfall möglicherweise auch militärisch zur Hilfe kommen sollte.
Moshe Zuckermann: Deutschland kann nur helfen, indem es Waffen liefert. So wie damals im Golfkrieg den Fuchs, ein Militärfahrzeug für Giftstoffe (ABC-Waffen) .Die Israelis würden auch nicht gerne haben, dass deutsche Soldaten an der Seite von israelischen Soldaten kämpfen. Das ist doch immer tabuisiert. Es gibt eine ganze Menge Verbindungen in normalen Zeiten zwischen dem israelischen und dem deutschen Militär. Aber dass deutsche Soldaten hierher kommen und kämpfen, davon kann nicht die Rede sein.
Die Bundeswehr wäre wohl auch gar nicht fähig dazu. Aber es fanden ja auch jetzt in Deutschland Proteste gegen Israel und für die Palästinenser statt. Wie wird denn das wahrgenommen? In Deutschland versucht man ja, das zu verbieten. Ist das auch die Erwartung, die man in Israel hat?
Moshe Zuckermann: Nein, das wird nicht erwartet. Ich habe Berichte in Haaretz gelesen, nach denen die zentralen Proteste an den amerikanischen Universitäten und natürlich in den arabischen Ländern stattfinden. Es wurde auch von den Linken, also der extremen Linken überall auf der Welt, gesprochen, die sich mittlerweile mit Hamas identifiziert und Israel verurteilt, mit Ausnahme von Deutschland hieß es da. Deutschland wird nicht als Land herausgestellt, das sich besonders durch antiisraelische Demonstrationen profiliert. Gab es so viele in Deutschland?
Es gab einige. Es gab auch Verletzte. Die Polizei ging auch hart vor, soweit ich das aus der Ferne sehen kann.
Moshe Zuckermann: Ich kann mir kaum vorstellen, dass das in Israel wahrgenommen worden ist.
Allerletzte Frage: Gibt es denn unter den Intellektuellen in Israel eine Diskussion darüber, wo das enden soll? Der Krieg ist ja eigentlich völlig unsinnig, es findet ein blutiger Austausch statt, aber es wird ewig so weitergehen, weil die Kinder, die überleben, dann auch wieder radikalisiert werden. Gibt es eine Diskussion darüber, wie Israel in die die Zukunft schauen kann?
Moshe Zuckermann: Von der Regierung gibt es keine Zukunftsperspektive, weil das Ziel des Kriegs beispielsweise nur ist, Hamas zu eliminieren. Na ja, gut, und was weiter? Wer soll anstatt der Hamas kommen? Und so weiter. Das wird von Israel noch gar nicht proklamiert. Es gibt allerdings wirklich randständige Diskussionen unter Linken hier, die unter anderem auch die humanitäre Hilfe an Gaza geleistet wissen wollen. Das wird diskutiert, aber es herrscht im Moment in Israel wirklich eine Stimmung, wo man das nicht wirklich zur Sprache bringen kann.
Was man im Augenblick machen kann und was vor allem die Journalisten und Kommentatoren von Haaretz leisten, ist natürlich, das Versagen der Regierung und von Netanjahu anzuprangern. Aber Konzepte, was danach sein soll, sind im Moment ganz und gar nicht erwünscht. Und die wenigen Palästinenser, die sich etwa an der Haifa-Universität artikuliert haben, sind von ihren Lehrgängen suspendiert worden, weil sie sich hamaskonform geäußert haben. Also ich glaube, das wird alles erst dann wirklich an die Oberfläche gespült werden, wenn die Kampfhandlungen allmählich abebben und zu Ende gekommen sind. Dann wird es eine Riesendiskussion geben
Aber es ist nicht so, dass wenn jemand humanitäre Hilfe fordert, es dann gleich heißt, er sei pro Hamas?
Moshe Zuckermann: Doch, weil die Leute, wie wir es vorhin gesagt haben, im Moment wollen, dass die ganze Hamas einschließlich der Frauen und Kinder von der Erdoberfläche verschwindet. Deswegen ist eine Solidarität auch nur mit einer humanitären Hilfe schon sehr prekär hier. Es herrscht im Moment in Israel eine große Zensur, die noch nicht so durchgeführt wird wie in einem totalitären Staat, aber es geht in diese Richtung im Moment. Wenn die Netanjahu-Diktatur sich endgültig etabliert haben wird, dann haben auch Intellektuelle einiges zu erwarten.
Aber jetzt ist die Zensur noch erst im Kopf von den Leuten?
Moshe Zuckermann: Die Zensur ist eine Selbstzensur, genau wie du das sagst. Es gibt Leute, die sich artikulieren. Du siehst ja auch, dass ich mich äußere. Allerdings wird in Israel gar nicht wahrgenommen, was ich diese Woche an sehr kritischen Interviews und Texten geleistet habe. Aber ich glaube, das wird gar nicht wahrgenommen, weil ich das auf Deutsch mache. Und von daher glaube ich, dass das im Moment noch keine große Gefahr für die Intellektuellen darstellt.
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Das Gespräch mit Moshe Zuckermann wurde am 19. Oktober um 16 Uhr geführt.