Unsere Perspektive auf die Konflikte in Göttingen bei der feministischen Demo
Unsere Perspektive auf die Konfliktein Göttingen bei der feministischen Demo anlässlich des Internationalen Tages gegen patriarchale Gewalt 2025
Der 25. November steht als internationaler Aktionstag für die globale Solidarität im Kampf gegen patriarchale Gewalt in all ihren Formen, die Menschen weltweit bedrohen.
In Göttingen kam es bei der diesjährigen Demo während der Abschlusskundgebung zu einem Konflikt zwischen den Organisator:innen und palästinasolidarischen Aktivist:innen bezüglich des Rechtes, den Genozid an den Palästinenser:innen zu thematisieren. Im folgenden stellen wird die Ereignissse so dar, wie wir sie zunächst erlebt/beobachtet und danach gemeinsam rekonstruiert haben. Es ist also eine subjektive Darstellung.
Ein Beitrag zum Genozid in Gaza und über die massenhafte Ermordung palästinensischer Frauen und Queers durch das israelische Militär wurde nicht im Rahmen der Demobeiträge über den von den Organisator:innen gestellten Lautsprecher gehalten, sondern vielmehr über ein von palästina-solidarischen Aktivist:innen mitgebrachtes eigenes Megaphon, so dass er nur von wenigen Personen überhaupt gehört werden konnte.
Das Zeigen der palästinensischen Flagge in der Nähe des Mikrophons wurde bei der Abschlusskundgebung von einigen der Demo-Organisator:innen verhindert, in dem diese ein Transparent gegen Nationalismus und Faschismus vor die Flagge hielten. Scheinbar beriefen sie sich dabei auf den „Konsens“, der im Vorfeld der Demo im vorbereitenden Bündnis verabredet worden war, dem zufolge keinerlei Nationalfahnen und Nationalsymbole auf der Demo gezeigt werden sollten. Dieser Konflikt lief unter dem Rufen von Parolen ab, in denen sich einige an der Demo Teilnehmende darüber empörten, dass die Gewalt gegenüber Palästinenser:innen hier nicht thematisiert werden konnte, wohingegen andere an der Demo Teilnehmende sich über das Zeigen der Fahne empörten. Alles spielte sich ab, während zwei Redner*innen für den Göttinger AK Asyl eine Rede hielten, die sie aber wegen des Konfliktes unterbrechen mussten. Eine der Redner:innen des AK Asyl bot den palästinasolidarischen Aktivist:innen durch nonverbale Handgesten das Mikrophon zum Reden an. Das wurde jedoch evtl. nicht wahrgenommen in der Gemengelage und gleichzeitig auch unterbunden durch Organisator:innen, die darauf hinwiesen, dass es kein offenes Mikrofon gäbe und die Redner:innen des AK mehrfach baten, mit ihrem Redebeitrag fortzufahren. Eine der AK Redner:innen erklärte dann noch, dass sie es bedauerte, dass das Mikro nicht an eine palästinensische Frau: als Sprecher:in abgegeben wurde.
Wir wissen nicht, ob es im Vorfeld der Demo Bemühungen seitens der palästinasolidarischen Aktivist:innen gab, sich im Bündnis für die Demo einzubringen und einen Redebeitrag anzumelden.
Der am 25.11.25 aufgetretene Konflikt hat andere Konflikte als Vorgänger, die bereits am 08.03.24 und am 08.03.25 bei den Göttinger Demos zum Internationalen feministischen Kampftag aufgetreten waren und in denen es jedes Mal darum ging, inwieweit das Zeigen palästinensischer Symbole und auch das Thematisieren des Genozids an Palästinenser:innen im Rahmen feministischer/antipatriarchaler Bündnisdemonstrationen legitim bzw. notwendig ist.
Hier möchten wir unsere Sichtweise auf die Geschehnisse darlegen.
1. Koloniale Gewalt darf nicht ausgeblendet werden
Wenn linke Feminist:innen an diesem internationalen Tag gegen patriarchale Gewalt
über eben diese Gewaltverhältnisse sprechen, halten wir es für unabdingbar, auch die koloniale Gewalt gegen Palästinenser:innen thematisieren zu können. Es erscheint uns widersprüchlich, sexualisierte und patriarchale Gewalt zu kritisieren, und gleichzeitig die systematische Gewalt gegen Palästinenser:innen, die Teil des israelischen Genozids ist, unberücksichtigt zu lassen. Wer sich als feministisch, als links und auch als antinationalistisch versteht, sollte auch die Auswirkungen der israelischen Besatzung und die Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung thematisieren.
Bei der Demo in Göttingen sprach lediglich eine Rednerin, eine afghanische Genossin, offen über die koloniale Gewalt, während dieses Thema von den Organisator:innen weitgehend ausgeklammert wurde.
Dieses Ausklammern bedauern wir sehr und halten es für einen Ausdruck der in der deutschen linken feministischen Szene weit verbreiteten Blindheit gegenüber kolonialistischen Gewaltverhältnissen und Kontinuitäten. Da die deutsche Regierung während des Krieges und des Genozides neben den USA der Hauptwaffenlieferant für Israel war bzw. ist und auch darüber hinaus massive Unterstützung für Israel zur Fortführung seiner genozidalen Politik leistete, hätte diese spezifische Form von Gewalt eine besondere Aufmerksamkeit bekommen müssen.
https://fluechtlingscafe-goettingen.com/wut-wird-zu-widerstand
2. Das Verhalten der Organisator:innen
Wir kritisieren das Verhalten der Organisator:innen, da es in unseren Augen nicht im Einklang mit einem internationalen, feministischen und antikolonialen, antinationalen Anspruch stand. Hätten sie diese Aspekte wirklich ernst genommen, hätten sie die koloniale Gewalt gegenüber Palästinenser:innen thematisiert und auch Palästinenser:innen eine Plattform geboten, ihre Sichtweise zu äußern. Dies wäre eventuell auch in einer Form möglich gewesen, bei der seitens der palästinensischen/palästinasolidarischen Menschen auf die Nutzung der Flagge verzichtet wird, um dem möglichen Konflikt um Nationalsymbole aus dem Weg zu gehen. Als problematisch empfinden wir es auch, dass einige Organisator:innen den Redner:innen des AK Asyl nahelegten, die unterbrochene Rede einfach fortzusetzen und somit mittels der Lautsprecheranlage die palästina-solidarischen Stimmen praktisch zu übertönen.
3. Kritische Auseinandersetzung mit Doppelmoral
Uns geht es nicht darum, den Organisator:innen eine Sympathie für die israelische Kriegsführung gegen die Palästinenser:innen zu unterstellen. Was wir als problematisch empfinden, ist die Doppelmoral, die sich in der Ausblendung der kolonialen Gewalt und der Gewalt der Besatzung äußert. Eine dem Anspruch nach antinationale, feministische Organisierung, die sich gegen Gewalt ausspricht, kann nicht gleichzeitig die palästinensische Flagge ablehnen UND das Thema der kolonialen Gewalt ausklammern. In unseren Augen ist dies eine selektive Auseinandersetzung mit Gewalt, die keine konsequente Haltung gegen koloniale Macht- und Gewaltverhältnisse einnimmt.
4. Die Notwendigkeit, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen anzuerkennen
Wir verurteilen die Verbrechen des 7. Oktober. Wir möchten jedoch betonen, dass die Geschichte des sogenannten ‚Nahostkonflikts‘ weit über dieses Ereignis hinausgeht. Der Konflikt ist das Resultat jahrzehntelanger kolonialer Siedlungspolitik, Besatzung, Vertreibung palästinensischer Menschen wie auch des primär deutschen und europäischen Antisemitismus, der in der Shoah, dem Genozid an jüdischen Menschen gipfelte. Diese historischen und aktuellen Ungerechtigkeiten müssen anerkannt werden, um den Konflikt im vollen Umfang zu verstehen und unterschiedliche Perspektiven anerkennen zu können.
Das Selbstbestimmungsrecht für die palästinensische Bevölkerung ist ein notwendiger, zentraler Bestandteil für langfristigen Frieden und Gerechtigkeit. Es ist wichtig, die Rechte dieser Menschen zu respektieren und sie nicht kollektiv mit der Hamas oder anderen Gruppen gleichzusetzen, um ihnen dann als angebliche folgerichtige Konsequenz Menschenrechte verweigern zu können. Die kollektive Bestrafung der Palästinenser:innen widerspricht grundlegenden humanistischen und linken Prinzipien. Die palästinensische Bevölkerung lebt in einem fragmentierten und besetzten Gebiet, und ihre grundlegenden politischen, sozialen und ökonomischen Rechte werden systematisch durch das israelische Besatzungsregime eingeschränkt und in Teilen vollständig genommen. Diese Aspekte müssen in jede Diskussion über den Konflikt einbezogen werden.
5. Die Verantwortung der Linken und der feministischen Bewegung
Wir denken, dass die Organisator:innen in einer eurozentrischen Logik agiert haben, die die palästinensischen Perspektiven und Erfahrungen nicht ausreichend berücksichtigt. Wir sehen auch, dass es eine kritische Haltung gegenüber nationalen Symbolen geben muss, jedoch darf diese nicht dazu führen, dass das Leid und die Unterdrückung einer ganzen Bevölkerung nicht angesprochen werden können. Eine solidarische Haltung sollte die realen Machtverhältnisse erkennen und Raum für die Perspektiven derjenigen schaffen, die am stärksten von ihnen betroffen sind.
Selbstkritisch müssen wir feststellen, dass auch wir als Teil der antinationalistischen antipatriarchalen Linken bis heute weitgehend darin versagt haben, im öffentlichen Raum in Göttingen eine inhaltliche Auseinandersetzung zu vermitteln, die nicht in die Fallstricke nationalistischer Vereinnahmungen fällt, solidarisch mit allen Betroffenen patriarchaler Gewalt ist und dabei gleichzeitig wachsam gegenüber Antisemitismus und Rassismus ist.
Wunsch nach respektvoller Solidarität
Wir sind der Meinung, dass der Konflikt auf der Demo mit respektvollerem und konstruktiverem Umgang hätte gelöst werden können. Der Vorschlag der Rednerin des AK Asyl, die Stimme palästinensischer Frauen zu hören, wäre ein konstruktiver Ansatz gewesen. Solidarität bedeutet nicht, Konflikte zu vermeiden, sondern zu versuchen sie in einer respektvollen und reflektierten Weise zu lösen.
Es geht uns nicht darum, Euch ein fertiges Konzept vorzuschreiben. Wir möchten vielmehr eine inhaltliche, kritische und solidarische Auseinandersetzung anstoßen. Wir selbst identifizieren uns mit keinem Nationalstaat dieser Welt. Auch eine Zwei-Staaten-Lösung für Palästina würde nach unserer Einschätzung keine tatsächliche Befreiung der Bevölkerung hervorbringen. Eine Befreiung der Menschen in Palästina hängt aus unserer Sicht von vielfältiger internationaler Solidarität ab – von Solidarität, die Staaten und koloniale Machtstrukturen durch kollektiven zivilen Widerstand unter Druck setzt und ihre Waffenarsenale sowie ihre Angriffsstrategien zum Stillstand bringt. Genau das zeigen immer wieder Hafenarbeiter:innen, indem sie Waffenexporte blockieren, wie beispielsweise in Italien, Marokko, Griechenland und den Niederlanden.
Dieser internationalistische Druck auf alle Staaten, die Kriegsstrategien verfolgen – sei es in Israel und Palästina, im Sudan, in Eritrea, in Afghanistan, in Iran, in Russland, in der Ukraine, den USA oder anderswo – ist unverzichtbar. Ohne diesen Widerstand werden Bewegungen isoliert und zu Schachfiguren geopolitischer Konflikte.
Gerade diese Form internationalistischer Radikalität fehlt der politischen Linken oft. Deshalb wünschen und erwarten wir, dass auch in Göttingen unter Berücksichtigung des internationalen feministischen Diskurses Raum für diese Perspektiven der Befreiung geschaffen wird.
Ein Zusammenschluss internationalistischer Linker Göttingen
01.12.2025
mit kritisch-solidarischen Grüßen
Flüchtlingscafe Göttingen
fluechtlingscafegoe@riseup.net

Einige Quellen zum Thema (- neben dem, was die palästinensischen Feminist:innen hier vor Ort zu sagen gehabt hätten) – leider sind alle Texte nur auf englisch verfügbar.
Hala Shoman, Ashjan Ajour, Sara Ababneh, Afaf Jabiri, Nicola Pratt, Jemima Repo, Maryam Aldossari:
Feminist Silences in the Face of Israel’s Genocide Against the Palestinian People: A Call for Decolonial Praxis Against Complicity. In: Gender, Work & Organisation. Volume 32, Issue 4, July 2025, Pages 1668-1675
Online 25.03.2025open acess: https://doi.org/10.1111/gwao.13258
Hier stellt die Erstautor:in des obigen Artikels, Hala Shoman, einige ihrer Forschungsergebnisse etwas detailierter vor: Reprocide in Gaza: The Gendered Strategy of Genocide Through Reproductive Violence
https://www.palestine-studies.org/en/node/1657726
Das Thema ihrer noch in Arbeit befindlichen PhD-Arbeit (Doktorarbeit) ist übrigens: “Palestinian Women at the Intersection of Colonial and Patriarchal Violence: Cultural Negotiations of Religion and Tradition in Gaza (2022–2023)“
Pratt, N., A. Jabiri, A. Ajour, H. Shoman, M. Aldossari, and S. Ababneh: “Why Palestine Is a Feminist Issue: A Reckoning With Western Feminism in a Time of Genocide. In: International Feminist Journal of Politics, 2025,
Vol. 27, no. 1: 226–250.
https://doi.org/10.1080/14616742.2025.2455477
Guido Veronese, Bilal Hamamra Fayez Mahamid , Dana Bdier, Federica Cavazzoni: Intersectional violence against women in Gaza amidst genocide. In: Women’s Studies International Forum 2025. Volume 110, May–June 2025, 103081
https://doi.org/10.1016/j.wsif.2025.103081
Franca Marquardt (13 Dec 2024): Redefining internationalism: the German left’s silence on Palestine and feminist critiques, Gender, Place & Culture, DOI: 10.1080/0966369X.2024.2440715
-German-lefts-silence-on-Palestine-and-feminist-critiques.pdf
Um die Transformation des jüdischen Teils der israelischen Gesellschaft in eine den Genozid weitestgehend mittragende zu begreifen, finden wir die Texte von Ori Goldberg hilfreich:
https://xcancel.com/ori_goldberg
oder
https://nitter.poast.org/ori_goldberg
UND
https://origoldberg22.substack.com/
Um eine (weitere) Perspektive aus Gaza neben den zitierten Forscher:innen kennen zu lernen empfehlen wir die Posts von Ezzideen Shehab, einem in Gaza lebenden jungen Mediziner, der sich klar gegen Hamas positioniert hat und oft verzweifelt versuchte, rund um den Globus das Bewusstsein für das Ausmaß der genozidalen Gewalt Israels zu erweitern:
https://xcancel.com/ezzingaza oder https://nitter.poast.org/ezzingaza
hier im PDF:

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