Proteste gegen die Justizreform in Israel

Interview mit Orly Noy (Mojgan Noy)1

Journalistin, politische Aktivistin und Vorstandsvorsitzende des Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten -B´Tselem (2)

30.Juli.2023

Bahram Ghadimi

1 Übersetzung aus dem Persischen ins Spanische von Shekoufeh Mohammadi Original auf Fari:

http://peykar.org/index.php/2-uncategorised/1498-2023-08-03-20-46-40 2 https://www.btselem.org/about_btselem

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Frage:

Vor kurzem wurde in Israel ein Gesetz verabschiedet, das offenbar die Justiz in die Hände der Exekutive legt. Das bedeutet, dass die Exekutive ohne jegliche Kontrolle arbeiten kann, was seit Monaten zu Massendemonstrationen in Israel führt. Können Sie dieses Gesetz und seine Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft erklären?

Orly (Mozhgan) Noy: Ja, es gibt einige Gesetze, die die Regierung zu verabschieden versucht, einige sind bereits verabschiedet worden, andere noch nicht. Zum Beispiel musste der Ausschuss, der die Richter des Obersten Gerichtshofs Israels auswählt, bisher den Vertretern der politischen Minderheitsparteien angehören. Jetzt plant die Regierung, diesen Ausschuss so zu ändern, dass regierungsnahe Personen die Mehrheit darin bilden und die Richter nur noch nach dem Willen der Regierung ernannt werden. Dieses Gesetz ist noch nicht verabschiedet.
Es gibt eine Reihe solcher Gesetze, die die Regierung zu fördern versucht. Das jüngste von ihnen wurde letzte Woche verabschiedet. Bisher konnte die Justizbehörde den Plan des Parlaments oder den Gesetzesentwurf der Regierung wegen mangelnder Logik für ungültig erklären. Das wird von nun an nicht mehr möglich sein, d.h. die Regierung kann die irrationalsten Gesetze verabschieden, ohne dass ein Gericht sie stoppen kann.

Wie ich bereits sagte, handelt es sich um eine Reihe neuer Gesetze, deren Hauptzweck es ist, einen Wandel im israelischen Regime herbeizuführen. Hunderttausende von Menschen haben wöchentlich an landesweiten Protesten teilgenommen, die seit mehr als sieben Monaten andauern, mit dem Argument: „Israel war bisher ein demokratisches Land, die Verabschiedung dieser Gesetze wird den demokratischen Charakter des israelischen Regimes in eine extremistische Diktatur verwandeln“. Der zweite Teil dieses Satzes ist insofern richtig, als diese Regierung entschlossen ist, die bisher im israelischen Regime vorhandenen demokratischen Elemente zu zerstören und durch ein extremes theokratisches Regime zu ersetzen, damit keine andere politische Kraft die Regierung der rechten Parteien durch Wahlen in irgendeiner Weise bedrohen kann. Aber der erste Teil ist nicht wahr, man kann nicht sagen, dass Israel ein demokratisches Land ist. Es ist zwar ein einigermaßen demokratisches Land für die jüdischen Bürger, aber es ist ein Land, das die palästinensischen Gebiete seit 56 Jahren besetzt hat und Millionen seiner Bürger unter schwerer Unterdrückung und Diskriminierung hält, sowohl in den besetzten Gebieten als auch in den israelischen Gebieten. Auf der anderen Seite gewährt es den Juden viele Privilegien, so dass man nicht sagen kann, dass Israel ein demokratisches Land ist.

Der Hauptziel dieser Proteste ist es, den Status quo vor dem Staatsstreich wiederherzustellen, in der Israel ein demokratischer Staat [zumindest] für Juden war, obwohl er gleichzeitig Millionen von Palästinensern unterdrückte.
Meiner Meinung nach ist dies eine sehr wichtige Gelegenheit für uns Israelis. Wir müssen diese grundlegende Debatte, die noch nie geführt wurde, für uns selbst neu definieren, d. h. die Bedeutung der Demokratie, die wir auf der Straße rufen. Was bedeutet das Wort „Demokratie“ für uns? Leider ist diese Diskussion in der jüdischen Bevölkerung Israels noch nicht ausreichend entwickelt.

Frage: Sie haben einen guten Punkt angesprochen. Wir wissen, dass Ihre Organisation „Be’Tselem“ die israelische Regierung und ihre aktuellen Gesetze als Apartheid betrachtet und dass Sie viel zu diesem Thema gearbeitet haben. In den wenigen Monaten, in denen die Menschen auf die Straße gegangen sind, gab es unter den Demonstranten nie jemanden, der das Thema Palästina angesprochen hat, wie wir diese Millionen von Palästinensern in diesen Kampf einbeziehen können?

Orly (Mozhgan) Noy: Das ist eine sehr wichtige Frage. In diesem Fall ist zunächst zu beachten, dass die palästinensischen Bürger in keiner Weise an diesen Demonstrationen teilnehmen. Logischerweise sollten wir uns fragen, warum sie nicht auf die Straße gehen, um nach Demokratie zu rufen, wo doch die Palästinenser die Gruppe sind, die eine echte Demokratie am dringendsten benötigt. Dafür gibt es mehrere Gründe, die auch Ihre Frage beantworten werden. Diese Protestwelle sagt nicht nur nichts über die besetzten palästinensischen Gebiete, sondern vermeidet auch jede Diskussion über dieses Thema, um mehr Menschen auf die Straße zu bringen und das wissen sie auch selbst. Leider zeigt die Realität, dass sobald man über die Besatzung, die Apartheid und die Misshandlung und Unterdrückung der Palästinenser durch die israelische Armee spricht, gesagt wird, dass die Proteste politisiert wurden und [deshalb] weniger Menschen daran teilnehmen werden. Diese Demonstranten wollen sich einen patriotischen und pro-militärischen Anstrich geben. Wie auf den Videos und Fotos zu sehen ist, gibt es bei den Demonstrationen ein Meer von israelischen Flaggen. Die meisten gehen mit israelischen Flaggen auf die Straße, um zu sagen, dass wir Patrioten sind, dass wir echte Israelis sind und dass wir das Militär unterstützen.

Ein interessanter und zugleich lächerlicher Aspekt der Proteste besteht darin, dass die Anführer der Proteste öffentlich erklären, dass die israelischen Soldaten und Offiziere nicht vor internationalen Gerichten angeklagt wurden, weil die internationalen Institutionen der israelischen Justiz und der israelischen Regierung vertrauen, und solange dieses Vertrauen besteht, können sich die israelischen Gerichte damit befassen, selbst wenn gegen internationale Gesetze verstoßen wird. Diese Anführer glauben, dass wenn die Welt zu dem Schuss kommt, dass israelische Gerichte nicht unabhängig sind und nicht die Befugnis haben, unabhängig zu urteilen und zu ermitteln, dann die Gefahr besteht, dass israelische Soldaten und Offiziere vor internationalen Gerichten angeklagt werden. Infolgedessen sprechen sich diese Anführer nicht nur nicht gegen die Verbrechen der israelischen Regierung gegen die Palästinenser aus, sondern eine der Motivationen in den Protesten ist die Unterstützung der israelischen Armee und der Soldaten, die Verbrechen gegen die Palästinenser begehen.

Frage: Mit anderen Worten: Sie sagen, dass der Grund, warum einige Leute an diesen Demonstrationen teilnehmen darin besteht den Staat und das Apartheidsystem in Israel zu erhalten?
Orly (Mozhgan) Noy:
Hundertprozentig! Natürlich interpretieren sie selbst die Teilnahme an diesen Protesten nie auf diese Weise. Wenn Sie sie fragen, werden Sie sehen, dass sie glauben, dass sie auf die Straße gehen, um die Demokratie in Israel zu bewahren. Aber das Problem ist, dass die Welt den Israelis jahrzehntelang erlaubt hat, ein Apartheidsystem zu haben und die palästinensischen Gebiete zu besetzen. Gleichzeitig wird Israel nicht nur von der Welt als demokratisches Land akzeptiert, sondern die Israels überzeugen sich auch selbst davon, dass sie eine sehr starke und ausgezeichnete Demokratie haben! Tatsächlich hat das israelische Volk die Kraft verloren zu verstehen, was Demokratie bedeutet, es interpretiert und versteht die Demokratie wirklich auf diese Weise. Zweifellos gehen die Menschen auf die Straße aus der tiefen Angst heraus, ihre grundlegendsten Leistungen/Vorteile zu verlieren, oder, anders gesagt, sie haben das Gefühl, dass sich ihre Situation langsam der Situation der Palästinenser annähert. Solange die Palästinenser die einzigen waren, die von Israel unterdrückt wurden, schien dies für alle normal zu sein, aber jetzt, da auch die Rechte und Vorteile der jüdischen Bürger bedroht sind, haben die Menschen plötzlich Angst.

Frage: Wir erkennen Kräfte, die sich auf soziale Schichten und Klassen stützen und auch in der palästinensischen Gesellschaft unterscheiden wir zwischen den Ausgebeuteten und der Bourgeoisie. Für Menschen, die die Themen und Ereignisse in Israels aus dem Ausland betrachten, insbesondere für Menschen im Nahen Osten, war es immer eine Frage, welche Klasse oder Schicht der Gesellschaft geht in Israel gegen dieses Gesetz oder die sogenannte „Rechtsreform“ auf die Straße?
Orly (Mozhgan) Noy: Ich bin kein Marxist, mit anderen Worten, ich habe kein marxistisches politisches Denken, aber es besteht kein Zweifel daran, dass diese Protestwelle klare Klassenmerkmale hat. An diesen Protesten beteiligt sich mehrheitlich die Mittel- und Oberschicht. Die jüdische Unterschichte, bis zu einem gewissen Grad wie die Palästinenser, hat von dieser israelischen Demokratie überhaupt nicht profitiert. Diese Demokratie, die heute von den Menschen so bewundert wird, hat die unteren Schichten der israelischen Gesellschaft nie begünstigt, so dass sie sich jetzt nicht viel an diesen Protesten beteiligt. Aus Klassensicht ist es sehr klar, dass diese Proteste au der Mittelschicht bis hin zur Oberschicht kommen und die unteren Schichten nicht daran teilnehmen.

Frage: Diese Proteste richten sich gegen eine rechtliche Gegenreform. Gibt es so etwas wie eine Verfassung in Israel?
Orly (Mozhgan) Noy: Nein, nein. In Israel haben wir keine Verfassung, sondern eine Reihe von Gesetzen, die als „Grundgesetze“ bekannt sind, die viel wichtiger sind als die normalen Gesetze. Um sie aufzuheben oder zu ändern, bedarf es der Zustimmung einer größeren Mehrheit (zwei Drittel) im Parlament.

Frage: Warum bestehen die Europäer darauf, die Frage der Demokratie in Israel zu betonen? Warum sagen alle Nachrichten, die wir in Europa hören, dass Netanjahu die Demokratie einschränken wird, und die Menschen deshalb verärgert sind?
Orly (Mozhgan) Noy: Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens, wie ich bereits sagte, haben die europäischen Länder und natürlich die Vereinigten Staaten von Amerika in diesen Jahren in irgendeiner Weise zu Komplizen Israels gemacht und Israel die Möglichkeit und die Erlaubnis gegeben, bei der Besetzung und der Errichtung des Apartheidregimes unter die demokratischen Länder der Welt aufgenommen zu werden. Diese Länder beteiligen sich an diesem Spiel als Komplizen, und es ist ihnen wichtig, dass Israel die Spielregeln nicht ändert. Da sie gemeinsame strategische Interessen haben, wollen sie Israel als Mitglied und Partner dieser Gemeinschaft nicht verlieren. Wir erleben auch das Erstarken der extremistischen faschistischen Kräfte in der Welt, und Netanjahu ist eine der prominentesten Figuren unter den extremistischen faschistischen Führern. Netanjahus Niederlage kann große negative Auswirkungen auf die faschistischen Führer haben und andererseits wird der Erfolg dieses Staatsstreichs des Netanjahu-Regimes einen bedeutenden Einfluss auf die Stärkung dieser Gruppe faschistischer Führer in der Welt und insbesondere in Europa haben. Europa verfolgt daher die Ereignisse in Israel mit großer Sorge um seine Interessen zu schützen.

Frage: Ist es möglich, dass die Proteste ihren Kurs ändern, wenn sie andauern? Ist es möglich, dass sie über die Verhinderung von Gesetzesänderungen in Israel hinausgehen und soziale Forderungen auch in die Kämpfe der Menschen einbezogen werden?

Orly (Mozhgan) Noy: Natürlich. Nicht nur in Zukunft, auch jetzt ändern sich die Forderungen der Proteste. Eine der wichtigsten Neuerungen dieser Proteste ist die Verweigerung einer höheren Anzahl von Soldaten in der Armee zu dienen (Sie wissen, dass es in Israel verpflichtend ist, in der Armee zu dienen). Das ist ein sehr wichtiges Thema, weil die Armee in Israel als etwas Heiliges betrachtet wird und bisher war die Dienstverweigerung nur ein politischer Protest gegen die Apartheid und die Besetzung der palästinensischen Gebiete. Aber jetzt sagen diejenigen, die nicht einmal von der Linken sind, dass sie nicht in der Armee einer Diktatur dienen werden. Das könnte das israelische Regime wirklich erschüttern. Dies ist eine Transformation, die begonnen hat und die wir erleben. Sie könnte dazu führen, dass Netanjahu einen großangelegten Krieg beginnt, um sich selbst zu retten und diese Menschen in die Armee zurückzubringen und wir wissen, wer Netanjahu ist und dass er keine moralische oder politische rote Linie hat und in der Lage ist, jegliche Barbarei zu begehen.
Es besteht die reale Möglichkeit, dass Netanjahu, um den Protesten und der Welle der Wehrdienstverweigerung entgegenzuwirken, irgendwo ein Feuer entzündet, um dem israelischen Volk zu sagen, dass wir uns jetzt vereinen müssen, dass es ist ein Notfall gibt und wir Kräfte in der Armee brauchen und die Menschen werden sicherlich teilnehmen. Sie wissen, dass die Israelis immer das Gefühl haben, dass sie eine Bedrohung und eine Wolke der Gefahr über sich haben. Diese Angst wird künstlich eingepflanzt und ist in das Blut und die Eingeweide der Menschen eingedrungen. Wenn Netanjahu an einen Punkt kommt, an dem er keine andere Wahl hat, dann glaube ich zu 100%, dass er einen Krieg beginnen wird, um die Menschen von den Protesten abzulenken und sie mit anderen Dingen zu beschäftigen.

Frage: Das heißt, die Proteste der Bevölkerung mit der Waffe des Nationalismus zu bekämpfen…?
Orly (Mozhgan) Noy: Genau. Und das ist etwas, das Dutzende Male bewiesen wurde. In Israel lassen die Menschen ihre intellektuellen und politischen Differenzen in Sekundenschnelle beiseite, wenn sie sich bedroht fühlen. Vielleicht ist das weltweit der Fall.

Frage: Haben die Proteste Auswirkungen auf die Außenbeziehungen der israelischen Regierung?
Orly (Mozhgan) Noy: Die Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Staaten befinden sich in der schlechtesten Phase seit der Gründung des Staates Israel. Das bedeutet, dass unsere Beziehungen zu den Vereinigten Staaten zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte Israels so beschädigt waren. Biden beispielsweise hat Netanjahu bis heute nicht eingeladen, obwohl er vor nicht allzu langer Zeit den israelischen Präsidenten Herzog eingeladen hatte, und dies wurde als schwere Missachtung Netanjahus gewertet. Damit machte Biden fast öffentlich deutlich, dass er nicht daran interessiert ist, Netanjahu einzuladen, solange er seine derzeitige Politik fortsetzt. US-Politiker, darunter mehrere ehemalige US-Botschafter in Israel, sagen zum ersten Mal, dass die USA ihre Militärhilfe für Israel überdenken sollten. Die Israelis hätten nie gedacht, dass die USA Israel jemals in diesem Ton behandeln würden.

Frage: Wie gehen die offiziellen palästinensischen Politiker im Westjordanland und im Gazastreifen mit diesen Protesten um?

Gaza ist eine andere Geschichte. Es ist die strategische Entscheidung der Hamas, Netanjahu zu diesem Zeitpunkt keine Ausreden zu geben. Tatsächlich ist ihre Sichtweise folgende: Jetzt, wo die Israelis sich von innen heraus schwächen und ihr eigenes Land zerreißen, wird alles, was wir jetzt tun, nur Netanjahu nützen, und deshalb ist die Sicherheitslage in dieser Hinsicht sehr ruhig. Weder die Hamas noch der Islamische Dschihad führen Operationen, Raketen oder Anschläge durch, und es ist eine strategische Entscheidung, jetzt beiseite zu treten, ohne Netanjahu eine Entschuldigung zu geben, und nur ein Beobachter zu sein, und es wird keinen Sinn machen, zu reagieren.

Orly (Mozhgan) Noy: Strategisches Schweigen! In dieser Hinsicht gibt es Unterschiede zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Tatsächlich ist Abu Mazen [Mahmoud Abbas], wie die kritischen palästinensischen Intellektuellen sagen, wie eine Marionette in den Händen Israels und hat keine wirkliche Macht. Die israelische Armee tötet und verhaftet wen sie möchte in palästinensischen Städten wie Ramallah, Dschenin, Nablus… die gemäß den Osloer Vereinbarungen unter der vollständigen Kontrolle von Abu Mazen stehen müssen. Viele dieser Operationen werden mit der Kooperation der palästinensischen Beamten und dem Apparat von Abu Mazen durchgeführt.
Gaza ist eine andere Geschichte. Es ist die strategische Entscheidung der Hamas, Netanjahu zu diesem Zeitpunkt keinen Vorwand zu geben. Tatsächlich ist die Sichtweise folgende: Jetzt, da die Israelis von innen schwächer werden und ihr eigenes Land zerstören, wird alles, was wir tun, nur Netanjahu zugute kommen. Deshalb ist die Sicherheitslage in dieser Hinsicht sehr ruhig. Weder die Hamas noch der Islamische Dschihad führen eine Operation durch, weder eine Rakete noch einen Angriff, und dies ist eine strategische Entscheidung, sich zurückzuziehen und Beobachter zu sein, ohne Netanjahu eine Entschuldigung zu geben. Es wäre unlogisch, wenn sie reagieren würden.

Vielen Dank für deine Zeit!