Israel, Palästina und der Universalismus

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Zionismus als tragische Selbstbefreiung

Der Antisemitismus im Europa des 19. Jahrhunderts nahm unterschiedliche Gestalt an. Stets trat er in Kombination mit einem Nationalismus auf, der den Ausschluss der Juden aus den nationalen Kollektiven entgegen allen Assimilationsbestrebungen zu erzwingen suchte. Nicht wenige Juden streiften Ende des 19. Jahrhunderts jeglichen Bezug auf Religion und Herkunft ab und traten diversen revolutionären Gruppen bei. Sie widersetzten sich der Situation der Anfeindung und des Ausschlusses damit, dass sie sich den universalistischen revolutionären Strömungen der sich formierenden Arbeiterbewegungen, dem Marxismus und Anarchismus, anschlossen. Am Ende sollte die allgemeine Befreiung von Kapital, Staat, Ausgrenzung und Staatlichkeit stehen – die Weltkommune, in der Religion naturgemäß keine Rolle mehr spielt. Eine andere starke Strömung verpflichtete sich auf die Idee des jüdischen Befreiungsnationalismus: den Zionismus. Die Idee vom Aufbau eines jüdischen Staates entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Hochphase des Nationalismus in Europa. Bereits 1862 formulierte der Sozialist Moses Hess in seiner Schrift Rom und Jerusalem den Gedanken eines jüdischen Nationalstaates als sozialistisches Befreiungsprojekt. Hess, der nicht unkritisierte Freund und Weggefährte von Marx und Engels, kann als »geistiger Vater« des Zionismus bezeichnet werden. Der österreichische Journalist und Verfasser von Der Judenstaat Theodor Herzl, der zu Recht als der wichtigste Vorkämpfer der zionistischen Idee begriffen wird, erklärte sogar, er hätte seine Schrift nicht verfasst, wenn ihm 1896 Rom und Jerusalem bekannt gewesen wäre. Gleichzeitig wichen die Zionismusvorstellungen der beiden an entscheidenden Punkten voneinander ab. Hess formulierte in Rom und Jerusalem einen kollektivistischen, nationalistischen und mit Sozialismus durchdrängten Utopismus, der die Erneuerung des Judentums nur im Sozialismus erblickte: »Die Erwerbung eines gemeinschaftlichen vaterländischen Bodens, das Hinarbeiten auf gesetzliche Zustände, unter deren Schutz die Arbeit gedeihen kann, die Gründung von jüdischen Gesellschaften für Ackerbau, Industrie und Handel nach mosaischen d.h. sozialistischen Grundsätzen, das sind die Grundlagen, auf welchen das Judentum im Orient sich wieder erheben, aus welchen das unter der Asche eines toten Formalismus glimmende Feuer des altjüdischen Patriotismus wieder hervorbrechen, durch welche das ganze Judentum neu belebt werden wird.«1 Herzls Programm pendelte zwischen einem bürgerlich-nationalistischen Pragmatismus, der sich mit dem vorherrschenden Kolonialismus zu arrangieren bereit war, und einem Neuland-Utopismus mit durchaus kollektivistischen Zügen. Als früher Chronist der Dreyfus-Affäre in Paris sprach er sich für eine »Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« aus, um nach der endlosen Verfolgung der Juden in Europa einen eigenen Nationalstaat der Juden zu konstituieren. Der Zionistenkongress 1897 in Basel war der erste Meilenstein auf dem Weg zur Staatswerdung. 1917 sprach sich der britische Außenminister Arthur Balfour für einen solchen Plan aus, 1922 billigte der Völkerbund die jüdische Einwanderung in Palästina. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen beschloss 1947, dass ein »jüdischer« und ein »arabischer« Staat auf dem Gebiet entstehen sollte, das bislang entweder Palästina oder Erez Israel genannt wurde. Der Staat Israel sollte als »nationale Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk« gegründet werden und somit gründete die Staatskonstruktion folglich auf der Religion. Dadurch wurde der Laizismus eines Großteils der bürgerlichen wie osteuropäisch-sozialistischen Vertreter des Zionismus dementiert und die Konstruktion einer »jüdischen Ethnie« heraufbeschworen. Heutige Kritiker sprechen daher auch von einem jüdischen anstelle eines israelischen Charakters des Staates Israel und von einer religiös fundierten »Ethnokratie«.2

Die jüdische nationale Befreiungsbewegung, die vor allem in Osteuropa eine große und militante Anhängerschaft fand, folgte anfangs jedoch keinem religiösen Programm, sondern in dem Sozialismus ähnelnder Weise der Ideologie der Arbeit und der Produktivierung, sie war eine kompakte Antwort auf das Problem des rassistisch legitimierten Ausschlusses der Juden. Die frühen jüdischen Einwanderungsideologien waren proletarisch-bäuerlich, volkstümlich und kollektivistisch geprägt. Die Erfahrung vieler Juden (besonders in Osteuropa) mit dem Antisemitismus radikalisierte diese fast allen Befreiungsbewegungen inhärenten Ziele. Man wollte das von den Antisemiten als »unproduktiv« verfolgte eigene Volk »produktivieren« und arbeitete in einer verdrehten Aufnahme des antisemitischen Vorwurfs an einer umfassenden Berufsumschichtung, die im neuen Land einen neuen Menschen zur Folge haben sollte. In den Vorstellungen von Aaron David Gordon beispielsweise steigerte sich dies zur Erlösung durch Arbeit: die Juden seien Parasiten, von der wahren Quelle des Lebens – der Arbeit – entfremdet, durch eigene Arbeit werde der Jude aber zum Menschen und könne seine »Händler«-Existenz mittels Selbsterziehung und Selbstverwirklichung in der Arbeit beenden. Daneben gab es noch eine Vielzahl weiterer Spielarten des Zionismus: Die Gruppe rund um Martin Buber strebte einen binationalen Staat an, wollte »von den Fellachen lernen« und arbeitete an einem Kulturzionismus, der sich der arabischen Umwelt weitgehend öffnen sollte. Die Wirklichkeit der xenophobischen Reaktionen, des Kampfes um Land und der Konkurrenz marginalisierte solche Spielarten des Zionismus recht schnell und es konnten sich die militantest-nationalistischen Varianten der jüdischen Befreiungsbewegung durchsetzen.

Die jüdische nationale Befreiungsbewegung sie war eine kompakte Antwort auf das Problem des rassistisch legitimierten Ausschlusses der Juden.

Dabei ist es wichtig, die reale Migrationsgeschichte der Juden nach Palästina nicht mit den Ideologien zu verwechseln. Tatsächlich war das Ansiedeln in Israel für viele Juden der Versuch sich endlich der Verfolgung zu entziehen – und dort ein neues Leben aufzubauen. In der Praxis waren viele mit einem rigiden System konfrontiert, wie es jeder Staatlichkeit in ihrer Anfangsphase zukommt. So wollte der israelische Staat unmittelbar nach Staatswerdung auch das Migrationsverhalten und die Ausreise von Juden aus Israel stark reglementieren, sogar die Auswanderung untersagende Praxis im Bereich des Eisernen Vorhangs wurde von einigen israelischen Politikern als Vorbild erwogen.

Eine starke Übereinstimmung von Aufbruchsemphase, Utopismus, Staatsaufbau und verstärkter Arbeitsbereitschaft konnten die sozialutopischen Kibbuzim vorweisen. Diese wurden nicht umsonst von vielen Anarchisten als neuere Versuche rezipiert, Kropotkins Gemeinschaftsideal einer kollektiven und egalitär strukturierten Produzentengesellschaft in die Tat umzusetzen. Dabei wurde übersehen, dass der Ausschluss der Lohnarbeits- und Konkurrenzgesetze unmittelbar mit dem Siedlungsgedanken zusammenhing. In der theoretischen Schrift »Boden und Siedlung in Palästina« von Abraham Granovsky, einem politischen Architekten der Besiedelung Palästinas, wurde folgerichtig festgehalten, dass es sich bei der Frage des Verbots der Lohnarbeit in den zionistischen Siedlungen »nicht um die Durchsetzung irgendeiner extremen Auffassung handelt, die jede Lohnarbeit à tout prix ausschalten will, sondern um die grundsätzliche Sicherung des wichtigsten wirtschaftlichen Gesetzes des jüdischen Aufbauwerkes«.3 Die Ausbeutung arabischer Arbeitskraft sollte weitgehend umgangen werden, wobei sie bereits in den 1920er und 1930er Jahren besonders in der Landwirtschaft zum Einsatz kam. Doch es wurde stets Sorge getragen, dass sich in der Phase der friedlichen Kolonisierung durch Landkauf und Aufbau national-exklusiver Siedlungseinheiten das Lohnarbeitsverhältnis nicht verallgemeinert, weil durch dieses in den Augen der Kibbuz-Zionisten eine »Rearabisierung« und Unterminierung des ausschließlich jüdischen Gesellschaftsaufbaus gedroht hätte. Die Verhinderung eines allgemeinen Lohnarbeitsverhältnisses, dessen Logik die billigste Arbeitskraft am Ort einzusetzen weiß, im Übergang des Jischuw, also der vorstaatlichen jüdischen Gemeinden in Palästina, zum Staat Israel, sollte faktisch die Verdrängung der Araber aus dem Territorium und die Aneignung des Bodens bewerkstelligen. In dem Bewusstsein vieler Siedler, wie auch diesen Prozess sympathisierend begleitender Anarchisten, stellte sich die kollektive (Pionier-)Arbeit jenseits der Markt- und Lohnarbeitslogik wie die Verwirklichung utopischer Lebens- und Produktionsformen dar.4

Sympathien konnten die Kibbuzim nicht zuletzt für sich hervorrufen, weil diese vor allem in den 1920er und 1930er Jahren stark sozialistisch eingefärbten Experimente in einer politisch wie ökonomisch rückständigen Gegend um sich griffen, in der die reaktionäre arabisch-palästinensische Nationalbewegung von Großgrundbesitzern und Islamisten dominiert wurde. Diese agitierten bereits in den frühen 1920er Jahren gegen die Zionisten als angebliche »Bolschewiken« und sie argumentierten voller Antisemitismus gegenüber der britischen Kolonialmacht, dass den Juden »als Verbreiter von Zwist und Zerstörung Kommunismus, Revoluzzertum und Hemmungslosigkeit« in ihrer Natur lägen. Die Juden seien wie ein sich vermehrender Virus, »der die Umgebung, in der er lebt, zerstört«5. Wenn Russland und Polen sie als große Länder nicht ertragen könnten, wie könne man solches von Palästina erwarten. So wird es in dem Bericht des arabischen Exekutivkomitees an Churchill vom März 1921 beklagt, der anlässlich des bekannten Pogroms von 1921 verfasst wurde, in dessen Verlauf unterschiedslos zionistische Kolonialisten wie alteingesessene Juden angegriffen und ermordet wurden.

Die große Tragödie des sich durchsetzenden (und immer stärker rechts und ausschließend-nationalistisch ausgerichteten) Zionismus war somit, dass die Ansiedlung des »eigenen Volkes« auf Kosten der in Palästina lebenden anderen Gruppen erfolgte, die wiederum nur nationalistisch auf diese Verdrängung reagierten. Auch die anfänglichen Versuche von Linkszionisten, Kulturzionisten und anderen Gruppen, gerade nicht die Fehler des europäischen Kolonialismus zu wiederholen, also keine Ausbeutung der autochtonen Arbeitskraft vorzunehmen, sondern eine fast vollständige eigene Infrastruktur hervorzubringen, sorgte für eine Separation von den dort lebenden Arabern. Der Judenhass unter den letzteren bestärkte die militante Absonderung der Juden in Palästina. Der Aufstieg der einen hieß Abstieg der anderen. Doch es sollte sich noch zeigen, dass die ideologische Selbstverortung den Imperativen einer nachholenden Industrialisierung und Modernisierung entgegenstand. Wie jeder expandierende Staat hatte auch Israel als verspätete Nation einen hohen Bedarf an Arbeitskraft, deren Herkunft dem Kapital erst einmal herzlich egal ist.

Die Vernichtungspolitik der Nazis und die Gründung Israels

Die Einwanderungsbewegungen in den 1930er und 1940er Jahren hatten nicht mehr den säkularisierten messianischen Glauben, einen »neuen Menschen« in einer neuen Umgebung zu schaffen. Viele Juden kamen gezwungenermaßen nach Palästina. Nur jeder zehnte jüdische Auswanderer ging 1933 nach Palästina, insgesamt etwa 50.000-60.000. Die meisten Auswanderer emigrierten in die USA. Da die britische Mandatsregierung in den 1930er Jahren die Einwanderung nach Palästina rigide kontingentierte, kamen 1934 die ersten Illegalen – bis zur Staatsgründung waren es 100.000 immigrierte Juden. Es entwickelte sich ein zäher Kampf der einwanderungswilligen Juden mit dem restriktiven Migrationsregime der Kolonialmacht England, ein Kampf, der terroristische Mittel von Seiten jüdischer nationalistischer Gruppen einschloss. Der Weg nach Palästina drängte sich den vom NS-Faschismus verfolgten Juden regelrecht auf, zeigten sich doch die meisten Länder wenig willens, eine wenig restriktive Flüchtlingspolitik zu verfolgen, wie der Ausgang der Konferenz von Évian im Juli 1938 zeigte.

Die Frage, welche Art von Menschen im neu zu gründenden Staat erwünscht sei, bestimmte hingegen die Einwanderungspolitik der jüdischen Organisationen. Einwanderer mussten sich für zwei Jahre in der Landwirtschaft verpflichten. Dem entzog sich über die Hälfte der neu Eingewanderten. Viele Einwanderer waren ursprünglich keine Zionisten, sondern »Hitler-Zionisten«, assimilierte bürgerliche jüdische Deutsche, von den Nazis zu Zionisten gemacht, deren Vorstellungen oft mit der ausgegebenen neuen hebräischen Siedlerkultur und dem Arbeitskollektivismus der frühen Jahre kollidierten.

Der Nationalsozialismus mit seiner Politik der kriegerischen Eroberung von »Lebensraum im Osten« für die Deutschen war für die dort lebenden Juden eine Lebensbedrohung. Im Kontext des Krieges konnte der Nazi-Faschismus das einholen, was ideologisch schon seit Beginn angedroht wurde: eine mörderische »Lösung der Judenfrage«. Bürokratische Vordenker und Praktiker der Vernichtung, im Krieg barbarisierte Soldaten und fanatisierte SS-Einheiten exekutierten den von Anfang an in der NS-Bewegung ideologisch gesetzten Antisemitismus, der sich bereits in den 1930er Jahren über Arisierung und Ausschluss der Juden auch materiell für einen Teil der deutschen Bevölkerung auszahlte. Der auf Vernichtung setzende Antisemitismus konnte sich erst im Zuge des imperialistischen Krieges entfalten, der als Vernichtungskrieg die neu eroberten Räume von im Sinne des kolonialistisch-rassistischen NS-Projekts »überschüssiger« Bevölkerung reinigen sollte.

Diese Vernichtungstat, die durch Massenerschießungen und industrielle Vernichtung durch Gas erfolgte, gab Israel und dem Zionismus eine moralische Schubkraft. Israel wurde für viele überlebende Juden ein sicherer Hafen, in dem sie zum ersten Mal keiner feindlichen Umgebung, keiner Verfolgung und Demütigung als Juden ausgesetzt waren. So ist es beispielsweise wenig verwunderlich, dass die meisten der überlebenden jüdischen Bielski-Partisanen, die in den weißrussischen Wäldern über Tausend verfolgte Juden retteten, nach dem Krieg nach Israel emigrierten. Polen und der gesamte Moskauhörige Ostblock war schließlich vom als »Antizionismus« ausgegebenen Antisemitismus affiziert. Dennoch sollte es diejenigen, die allzu unkritisch auf den Zionismus blicken – schließlich fußt dieser auf der »Raus-aus-der-Diaspora«-Ideologie – zumindest irritieren, dass die Bielski-Brüder, die Köpfe der Partisanenbewegung, 1956 von der Lebensrealität in Israel enttäuscht in die USA auswanderten. Sie waren mit diesem Entschluss nicht die einzigen Juden, die nicht im verheißenen Land blieben.

Proklamierte »historische Ansprüche« der beiden »Völker« verstellen jeden universalistischen Zugang zu dem eigentlichen Problem.

Israel wurde nach Auschwitz zum nationalen Schutzraum der Juden erklärt, eine Tatsache, die in Europa, den USA und der Sowjetunion akzeptiert und unterstützt wurde, im arabischen Raum jedoch kam es zu einem vehementen »Abstoßungsphänomen«6. Die elenden Überlebenden, die im Übrigen nicht den staatsoffiziell-zionistischen Vorstellungen des starken Juden, der seinen Staat aufbaut, entsprachen, waren bereits drei Jahre nach Kriegsende und wenige Stunden nach Ausrufen der israelischen Staatsgründung gezwungen in einen Überlebenskampf gegen eine Allianz bestehend aus den arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Libanon, Transjordanien und Irak zu ziehen – und sie siegten über die Barbarei. Militärische und feudale Despotien trommelten zum großen »antijüdischen Krieg« und einige waren subjektiv auch gewillt, die Auslöschungspolitik der Nazis zu Ende zu führen.

Gleichzeitig sorgte dieser jüdisch-israelische Sieg mit seinen Massenvertreibungen von Arabern und Massakern wie jenem in Deir Yassin für eine perpetuierte Barbarei, weil er die nationale Spaltung auf die Spitze trieb und blutig verfestigte. 750.000 Palästinenser mussten ihren einstmaligen Wohnort verlassen und fliehen. 170.000 Araber verblieben in den Grenzen. Israel hatte sich vor den Vereinten Nationen verpflichtet, den Minderheiten auf dem eigenen Territorium volle Bürgerrechte zuzugestehen. Dementsprechend musste es den auf seinem Gebiet verbliebenen Palästinensern die Bürgerrechte verleihen. Dessen ungeachtet wurde nach der Staatsgründung über die Hälfte ihres Landbesitzes durch die Regierung konfisziert. Die meisten Palästinenser mussten zudem bis 1966 unter einer Militärverwaltung leben und erhebliche Einschränkungen hinnehmen, hatten aber rein rechtlich gesehen die israelische Staatsbürgerschaft. Sie durften ihre Häuser und Dörfer ohne besondere Erlaubnis nicht verlassen und wenn sie nach der Sperrstunde ihre Wohnungen verließen, konnten sie erschossen werden. Für die in Folge des arabischen Angriffs von 1949 geflohenen Hunderttausenden palästinensischen Flüchtlinge gab es keine Möglichkeit, wieder Anspruch auf eine Rückkehr oder gar Landbesitz zu reklamieren, da das Land zum historischen Besitz des »jüdischen Volkes« erklärt wurde. Dies prägte sich als »Nakba« (Unglück, Katastrophe) ins Bewusstsein der Palästinenser ein – und wurde stets, wo es als erlebte oder erinnerte Geschichte verblasste, von interessierter Seite immer wieder reaktiviert.

In Folge des israelischen Sieges über die arabischen Aggressoren wurden bis zu einer Million Juden aus ihren arabischen Heimatländern vertrieben: aus Libyen, dem Jemen, dem Irak und Ägypten – um nur die wichtigsten Länder zu nennen, in denen von staatlicher Seite antijüdische und antisemitische Maßnahmen ergriffen wurden.

Das Gerangel zweier Bevölkerungsgruppen um dasselbe Land zeitigte die schlimmsten Folgen. Proklamierte »historische Ansprüche« der beiden »Völker« verstellen jeden universalistischen Zugang zu dem eigentlichen Problem. Bis heute wird die aktuelle Barbarei des Konflikts von den extremen Rechten in Israel mit dem Hinweis auf eine angeblich anti-zivilisatorische Barbarei der Araber gerechtfertigt. Oder Israel wird der Verbrechen der Nakba angeklagt, ohne die Vorgeschichte und die antijüdischen, antisemitischen und antiisraelischen Affekte und Manöver von arabischer Seite zu erwähnen. Auf der anderen Seite sind in Israel die Stimmen nicht rar, die schnell Antisemitismus ausmachen, wenn Kritik an der Besatzungs- und Kriegspolitik der israelischen Regierung geäußert wird, und verselbständigt auf den Holocaust verweisen. Jahrelang wurde beispielsweise von rechten israelischen Medien und Offiziellen Arafat als »neuer Hitler« apostrophiert, um Verhandlungen ausweichen zu können. Ausgerufene Sicherheitspuffer und Sicherheitszonen verwandelten sich in schlichte Landnahme. Obwohl Israel sich spätestens mit dem Sechs-Tage-Krieg als unbesiegbare und hegemoniale Militärmacht etablieren konnte, eine Atommacht darstellt, den besonderen Schutz der USA genießt und in der Zeit des Kalten Krieges als wichtiger militärischer wie geheimdienstlich operierender Akteur auf westlicher Seite gegen etwaige kommunistische Gefahren antrat, präsentierte es sich gerne als verfolgte Opfergemeinschaft. Erst wenn die einseitige und von ideologischen Staatsapparaten stets aufgefrischte, politisch instrumentalisierte Holocaust- und Nakba-Erinnerung einer anderen, nationalistische Kollektive überwindenden Vorstellung gewichen ist, kann die komplexe nahöstliche Barbarei im Sinne von Emanzipation überwunden werden.

Die verschiedenen Gesichter der Arbeitskraft in Israel

Israels massenhafte Landnahme 1948 stellte den jungen jüdischen Staat vor ein erhebliches Problem: Zum einen gab es einen Mangel an jüdischen Arbeitskräften, zum anderen wollten tragende Institutionen des neues Staates wie beispielsweise die Staatsgewerkschaft Histadrut eine nationale Ausschließlichkeit reklamieren, die im Fall der Anwendung von Arbeitskraft darauf hinauslief, allein mit »jüdischer Arbeit« den neuen jüdischen Staat aufzubauen. Die Histadrut wurde 1920 als allgemeiner Gewerkschaftsverband der hebräischen Arbeiter gegründet und war, wie es der Name schon deutlich macht, nur für jüdische Arbeiter offen. In der Zwischenzeit gab es immer wieder Versuche, jüdische und arabische Arbeiter gemeinsam zu organisieren. Dies scheiterte an der ausschließlich nationalistischen Orientierung der Histadrut wie auch an der Dominanz des Nationalismus und Islamismus auf arabischer Seite. Insgesamt ist die Phase des Jischuw, also die vorstaatliche Situation der jüdischen Gemeinde in Palästina, von starken Klassenkämpfen gekennzeichnet. Die eingewanderten jüdischen Arbeiter zeichneten sich hierbei durch ein größeres Selbst- und Klassenbewusstsein aus als ihre arabischen Kollegen, die teils als ungelernte Arbeiter eine Produktionsmacht vermissen ließen, teils in quasifeudalen Abhängigkeitsverhältnissen verblieben. Der Kampf um eine Öffnung der Histadrut für arabische Arbeiter wurde hauptsächlich von internationalistischen und klassensolidarischen Aktivisten geführt, gegen die innerhalb der Histadrut Front gemacht wurde. 1925 wurden einige von ihnen aus der Gewerkschaft ausgeschlossen, von der britischen Verwaltung entlassen und brotlos gemacht, und einige sogar verhaftet und außer Landes deportiert, wie es der deutsche jüdische Kommunist Hans Lebrecht berichtet.7 Erst im Jahre 1959 wurden die nationalistischen Einschränkungen aus den Statuten der Histadrut entfernt und der Name programmatisch auf territoriale Basis gestellt: Allgemeiner Gewerkschaftsverband der Arbeiter Israels. Nun konnten sich auch arabische Arbeiter in der Histadrut organisieren.

Das karge, zu kolonisierende Land hatte natürlich einen großen Bedarf an einer Arbeitskraft, die unorganisiert zu den schlechtesten Bedingungen schuftet. Gleichzeitig war die Idee, allen Juden der Welt ein sicheres und gutes Leben in Erez Israel anzubieten, oberste Staatsideologie. Die beständige Kriegsdrohung, die umfassende Militarisierung und ein im Vergleich zu den USA wenig reizvolles kulturelles wie wetterbezogenes Klima machte Israel nicht unbedingt zu einem beliebten Einwanderungsland für europäische Juden. Das Problem, jüdische Arbeitskraft in den erklärtermaßen »jüdischen Staat« zu schaffen, wurde so mit dem Anwerben von Juden aus dem Nahen Osten und Nordafrika gelöst. Dort gab es natürlich auch das Bedürfnis von Juden, den wirtschaftlich wenig attraktiven Despotien, die noch dazu – wie beispielsweise der Irak – oftmals antisemitische Kampagnen lancierten, den Rücken zu kehren. Doch die orientalischen (sephardischen) Juden fanden sich in Israel ihrer beruflichen Qualifizierung beraubt und im unteren Segment des Arbeitsmarktes wieder. So rebellierten die orientalischen Juden wiederholt ab den 1950er Jahren gegen ihre untergeordnete Position in der israelischen Gesellschaft. Die Riots wandten sich auch gegen die staatliche Gewerkschaft Histadrut, die als alleinige Stellvertreterorganisation der westlichen (askenasischen) Juden angesehen und kritisiert wurde und zogen sich bis in die 1970er Jahre hinein. Erst jüngst flackerten Proteste äthiopischer Juden auf, die sich gegen den Alltagsrassismus in Israel und ihre Ungleichbehandlung auf dem Arbeitsmarkt wehrten.

Der Ausschluss der Palästinenser aus der israelischen Gesellschaft und ihre gleichzeitige Ausbeutung ermöglichte neben dem Ausbau der Siedlungen als sozialem Druckventil eine Art sozialdemokratischen Klassenkompromiss.

Vor dem Krieg von 1967 war Israel ein zerrissenes, von Revolten und Streiks heimgesuchtes Land. Israel war weitgehend unterkapitalisiert, der Zustrom von ausländischem Kapital versiegte aus mehreren Gründen, 1966 herrschte eine Arbeitslosigkeit von 11 Prozent. Der Krieg von 1967 veränderte diese prekäre Situation jedoch schlagartig: Die USA sahen sich nochmals mehr in der Pflicht, Israel finanziell zu unterstützen, um die panarabische Bewegung, die sich an die Sowjetunion anlehnte, einzudämmen und – weit entscheidender – die Besetzung der Westbank versorgte Israel mit einem hohen Reservoir ausbeutbarer palästinensischer Arbeitskraft. Die englische Gruppe Aufheben fasst die Situation nach dem Sechs-Tage-Krieg wie folgt zusammen: »Praktisch hatte Israel nun einen doppelten Arbeitsmarkt: einen jüdischen und einen palästinensischen. Bezeichnenderweise folgte der israelischen Besetzung dieser Gebiete kein de jure-Anschluss. Das hätte nämlich bedeutet, den Palästinensern der Westbank oder des Gazastreifens dieselben begrenzten Staatsbürgerrechte zugestehen zu müssen wie den Palästinensern, die es geschafft haben, bis 1966 innerhalb der Grenzen von 1948 zu bleiben. Durch die Besetzung konnte das israelische Kapital, vor allem in der Landwirtschaft und auf dem Bau, Mehrarbeit aus palästinensischen Arbeitern pumpen, ohne den jüdischen Charakter des Staates anzutasten. Die Palästinenser wurden nicht in die israelische Gesellschaft integriert: tagsüber arbeiteten sie in Israel, nachts sollten sie in ihre Schlafstädte auf der Westbank oder im Gazastreifen zurückkehren. Und während ihre billige Arbeitskraft beiderseits der Grünen Linie einen Bau-Boom ermöglichte, zog die israelische Wirtschaft zusätzlichen Nutzen aus der Eroberung der besetzen Gebiete als Absatzmarkt für israelische Konsumgüter.«8

Der Ausschluss der Palästinenser aus der israelischen Gesellschaft und ihre gleichzeitige Ausbeutung ermöglichte neben dem Ausbau der Siedlungen als sozialem Druckventil eine Art sozialdemokratischen Klassenkompromiss, durch den über vielerlei staatliche Instanzen – und nicht ohne Druck, Streiks, manchmal sogar Revolten wie im Falle der orientalischen Black Panthers – eine Hebung des Lebensstandards für die jüdischen Israelis erreicht wurde.

Die von manchen »neoliberal« genannte Wende des Zurückfahrens des relativ großzügigen Soziallohns erfolgte in den Jahren der Inflationskrise ab 1978. In den frühen 1980er Jahren fand ein systematischer Abbau aller sozialdemokratischen Errungenschaften des Staat gewordenen »Arbeiterzionismus« bei gleichzeitigem Ausbau der Siedlungspolitik statt. Dadurch bekamen jüdische Arbeiter, die sich die Wohnungen in den alten Städten Israels nicht mehr leisten konnten, subventionierte, oft durch billige palästinensische Arbeitskraft erbaute Wohnungen in den Siedlungen, die allerdings als Sicherheits-Pufferzonen in den besetzen Gebieten fungierten.

Die Palästinenser als unruhige Arbeitsmigranten

Die Palästinenser haben Radikale auf der ganzen Welt seit den 1960er Jahren des 20. Jahrhunderts fasziniert. Und diese Faszination ist im Kontext des Algerien-, Vietnam- und Sechs-Tage-Kriegs nicht vollkommen unverständlich, wenn auch oftmals hanebüchen überrissen. So ist die zeitgenössische Einschätzungen der italienischen operaistischen Gruppe Lotta Continua aus dem Jahre 1972 differenzierter als so manches linksnationalistische Schwelgen fürs »kämpferische palästinensische Volk«: »Der palästinensische Widerstand ist immer ein Wirrwarr verschiedener Kräfte gewesen, die vom interklassistischen und rassistischen Nationalismus … bis zu einer antiimperialistischen und sozialistischen Perspektive reichten.« Die 1959 gegründete Fatah, die sich in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren vom hegemonialen arabischen Nationalismus mit einem dezidierten palästinensischen Nationalismus absetzte, präsentierte sich um 1968 als Revolution und Sozialismus im Mund führende Befreiungsbewegung gegen Kolonialismus und Imperialismus.

Vergessen wird dabei jedoch, dass der vielbeschworene »palästinensische Kampf« interklassistisch die neue Bourgeoisie in den Golfstaaten sowie in Beirut und Amman mit den marginalisierten Unterschichten in den Elendsgebieten in Gaza oder den Flüchtlingslagern im Libanon zusammenschweißt. Der »palästinensische Befreiungskampf« war von Anfang an von diversen arabischen Staaten abhängig und wurde von diesen zu eigenen Herrschaftszwecken manipuliert. Die Situation der ärmeren Segmente der Palästinenser war diesen herzlich egal. Die Proletarisierung der palästinensischen Bevölkerung, die ursprünglich bäuerlich war, erfolgte in beschleunigter Weise durch Krieg und unter den Bedingungen eines Besatzungsregimes.

In der Anfangszeit der israelischen Staatsgründung erfolgte  wie bereits beschrieben ein Ausschluss der Araber aus den Institutionen der »jüdischen Arbeit«. Ab den späteren 1960ern wurde der israelische Arbeitsmarkt für Palästinenser geöffnet, bis Anfang der 1970er Jahre arbeiteten 60.000 Palästinenser in Israel. Dann setzte eine Rezession in Israel ein und die Ölstaaten reklamierten einen starken Bedarf nach Arbeitskräften, die in großer Zahl aus der Westbank kamen und davor in Israel arbeiteten. Die dadurch in Israel entstandene Lücke wurde zum Teil mit Arbeitern aus dem Gazastreifen gefüllt.

In Kuwait beispielsweise hatten sich bereits hunderttausende Palästinenser niedergelassen, als sich der Ölstaat noch im Aufbau befand. Dabei arbeiten die Palästinenser nicht nur direkt in der Erdölproduktion, sondern auch in der Verwaltung, im Schulwesen, als kleine Handwerker, Händler und Fachleute. Als die Palästinenser Mitte der 1960er Jahre begannen, in ihren »Gastländern«, vor allem in Jordanien und im Libanon, als besondere Gruppe mit nationalem Befreiungsanliegen aufzutreten, wurden sämtliche Ölrentiersstaaten misstrauisch: Die Regierung Kuwaits fürchtete, bei ihnen könne sich fortsetzen, was sich in Jordanien und im Libanon als »Staat im Staat« entpuppt hatte. Kuwait kaufte sich in den 1980er Jahren davon gewissermaßen frei: Die Aktivitäten der nationalen Befreiungsbewegung PLO wurden finanziell unterstützt, wenn sie nur weit genug von Kuwait entfernt stattfanden, in Israel oder irgendwo sonst im Ausland. Der in solcher Weise staatsoffiziell unterstützte Befreiungsnationalismus war also auch eine intendierte Aktion zur Verhinderung von Revolten im eigenen Land. Saudi-Arabien dahingegen hat sich früh gegen die Palästinenser abgeschottet. Nur ausgewählte Palästinenser dürfen überhaupt einreisen. Für die Saudis stellen die Palästinenser die Trägerschicht der vom säkularen ägyptischen Herrscher Nasser propagierten panarabischen Ideologie dar.

Mit den 1980er Jahren wuchs die Abhängigkeit der palästinensischen Arbeitskraft von Israel und die palästinensische Wirtschaft wurde voll in die israelische integriert. Die Löhne für palästinensische Arbeiter in Israel und Palästina glichen sich in den 1980er Jahren vor der Ersten Intifada an. Vor diesem Hintergrund wurden in der Ersten Intifada Streiks und der Boykott der Arbeit in Israel als Kampfformen benutzt. Speziell im Bausektor und in der Landwirtschaft wurde die israelische Wirtschaft dadurch erheblich geschwächt. Israel wurde gezwungen, die Abhängigkeit von palästinensischer Arbeitskraft auszugleichen. Das israelische Arbeitsministerium musste 1988/89 bekanntgeben, dass nur wenige jüdisch-israelische Arbeitskräfte die Arbeitsplätze der Palästinenser in Israel übernehmen wollen. Bis Mitte der 1980er Jahre waren die palästinensischen Arbeiter in Israel eher jung (bis 24 Jahre alt) und unqualifiziert, die Erste Intifada war so auch eine jugendlich proletarische Revolte. Mit dem Aufstand der Palästinenser gegen die Okkupation wurde im Gazastreifen eine Militärverordnung verhängt, derzufolge Arbeiter aus Gaza ab Februar 1989 eine spezielle Erlaubnis benötigten, um in Israel zu arbeiten. Computerlesbare Plastikkarten wurden eingeführt, die jeder Arbeiter bei sich führen musste, wollte er Israel betreten. Erklärtes Ziel war es, die Sicherheit in Israel zu gewährleisten, aber auch angesichts der Streik- und Boykottmaßnahmen das Arbeiten in Israel zu einem kostbaren Privileg für einige Palästinenser zu machen. Parallel bemühte sich die israelische Regierung um eine verstärkte Anwerbung von überseeischen Arbeitern beispielsweise aus Thailand. 1992 gilt als das Jahr der größten Abhängigkeit der palästinensischen Arbeiter von Israel – mehr als 120.000 arbeiteten in Israel und waren von dieser Arbeit auch stark abhängig, weil die Subsistenzstrategie der PLO kaum nachhaltige Früchte trug. Nach 1993 stieg das Alter der in Israel beschäftigten palästinensischen Arbeiter an und auch ihre Qualifikation nahm zu.

Etwa 3,7 Millionen Palästinenser sind offiziell als Flüchtlinge anerkannt, einige Studien sprechen von 5,5 Millionen Flüchtlingen. Das sind Personen, die aus ihren angestammten Gebieten vertrieben worden oder aufgrund der Nahostkriege geflohen sind, sowie deren Nachkommen (1948 nach Schätzung der Vereinten Nationen 711.000 und später im Sechs-Tage-Krieg 1967 ca. 300.000 Flüchtlinge). Der größte Teil der palästinensischen Flüchtlinge lebt in Jordanien. Ein Teil der Flüchtlinge erhielt nach Annexion des Westjordanlandes durch Jordanien die jordanische Staatsbürgerschaft. Der Besitz beider Staatsbürgerschaften wird vom jordanischen Königreich abgelehnt. Außerdem wird auf der Rückkehr dreier Flüchtlingsgruppen bestanden: Ca. 100.000 ursprünglich aus Gaza stammende Flüchtlinge, Flüchtlinge aus der Westbank, die sich aufgrund abgelaufener UN-Flüchtlingshilfswerk-Ausweise in Jordanien aufhalten, und Palästinenser, die im Zuge des Golfkrieges 1990/91 nach Jordanien geflohen sind.

Unmittelbar nach dem Zweiten Golfkrieg 1991 wurden die etwa 450.000 in Kuwait lebenden Palästinenser nahezu vollständig vertrieben, weitere Palästinenser in den Golfstaaten wurden ebenso diskriminiert und ausgeschlossen. Libyen warf Mitte der 1990er Jahre 350.000 Palästinenser aus dem Land und besonders der Libanon versuchte wiederholt, die Flüchtlinge loszuwerden. Die Palästinenser wurden in ihren »Gastländern« ohnehin nie vollständig integriert, sondern in der räumlich sichtbaren Überflüssigkeit und Marginalität belassen und auf diese Weise zu einem ewig von den Vereinten Nationen alimentierten Klientel: eine propagandistisch ausschlachtbare Bevölkerungsgruppe, deren Flüchtlingsschicksal die arabischen Staaten Israel ewig anlasten konnten. So stellt sich die prinzipielle Frage, ob eine Kategorie wie »Palästinenser« für einen über 50 Jahre in Jordanien lebenden Menschen oder gar einen dort Geborenen überhaupt Sinn macht.

In Israel arbeiteten die Palästinenser ab den 1980er Jahren oft nur als Tagelöhner und Bauarbeiter zu den miesesten Bedingungen. Die Arbeitslosenquote lag über Jahrzehnte bei über 50 Prozent, in Zeiten der Abriegelung der palästinensischen Gebiete bei 85 Prozent. Darüber hinaus sind die palästinensischen Arbeiter die kontrolliertesten und überwachtesten der Welt – durch eine ständige Kontrolle durch das israelische Militär, aber auch durch ihre »eigenen« Leute in den Autonomiegebieten. Dort herrscht aufgrund der Sperranlagen, neuester Überwachungstechnologien, aber auch etlicher mafiös organisierter Sicherheitsdienste eine hohe Repression.

Die zehntausenden, während der Erntezeit in Israel beschäftigten Palästinenser sind von der weit vorangeschrittenen Kapitalisierung der Landwirtschaft bedroht. Die Sorge über das »Sicherheitsrisiko« durch palästinensische Wanderarbeiter und die Furcht vor Streiks hat in Israel ab den späten 1980ern dazu geführt, sich Gedanken über eine Mechanisierung der Landwirtschaft zu machen. In einigen ausgesuchten Kibbuzim kamen so bereits »mechanische Landarbeiter« genannte Maschinen zum Einsatz. Selbst die Fragen der Maschinisierung der Landwirtschaft und des Abschmelzens der Arbeitskraft von Landarbeitern ist in Israel vom Sicherheitsbedürfnis diskursiv und praktisch überformt.

Tatsächlich wurde seit Anfang der 1990er Jahre in Israel massenhaft und gezielt für eine Immigration von russisch-jüdischen Arbeitsmigranten geworben – als ein Versuch sich aus der Abhängigkeit der israelischen Ökonomie von palästinensischen Arbeitern zu lösen. Im Laufe der 1990er kamen über eine Million neue Arbeitsmigranten, die aufgrund der nach-sowjetischen Zerfallsökonomien ein neues Glück und ein besseres Leben suchten. Daneben wurden Arbeiter aus China, Thailand, den Philippinen, Rumänien und West-Afrika angeworben. Dies ist die materielle Basis für die seit den Osloer Verträgen praktizierte Form der Abriegelung der besetzten Gebiete, die sich schließlich auch in den ca. 760 km langen israelischen Sperranlagen entlang der Grenzlinie zwischen Israel und dem Westjordanland ausdrückt. Die Sperranlagen wurden ab 2002 als »Terrorabwehrzaun« – so die offizielle Verlautbarung – gegen Selbstmordanschläge auf dem israelischen Territorium gebaut. Sie schränkten die palästinensische Bevölkerung des Westjordanlandes in ihrer Bewegungsfreiheit stark ein und okkupierten nebenbei noch palästinensisches Territorium. Tatsächlich konnten Selbstmordanschläge effektiv verhindert werden. Jedoch kann die Furcht vor Terroranschlägen nicht zur Rechtfertigung von institutionellen Praktiken der israelischen Behörden dienen, welche die in den palästinensischen Autonomiegebieten wohnenden Arbeiter trifft, die in Israel arbeiten oder arbeiten wollen. Die Mauer ist in Bezug auf die Arbeitsmigration von Palästina nach Israel nicht nur eine Sicherheitsanlage zur Abschottung Israels, sondern zugleich eine Institution mit kontrollierender, regulierender und unterdrückender Funktion gegenüber palästinensischen Arbeitern. Dem Ausschluss der Palästinenser ging eine Neuzusammensetzung der Arbeiterkraft in Israel voraus. Naomi Klein, über deren Urteilskraft man denken mag, was man will, bringt diesen Zusammenhang jedoch ganz gut auf den Punkt: »Im Gegensatz zu den palästinensischen Arbeitskräften, deren Präsenz in Israel das zionistische Projekt in Frage stellte, weil sie an den israelischen Staat Ansprüche auf gestohlenes Land und staatsbürgerliche Gleichberechtigung stellten, leisteten die Russen, die in dieser kritischen Phase zu Hunderttausenden einwanderten, den zionistischen Zielsetzungen Vorschub, weil sie sowohl das Zahlenverhältnis zwischen jüdischer und arabischer Bevölkerung deutlich verschoben als auch ein neues Reservoir billiger Arbeitskräfte darstellten.«9 Ob gewollt oder ungewollt bildeten diese Immigranten auch die Stoßtrupps, die in die Siedlungen gezogen sind. Für sie wird dort günstiger Wohnraum bereitgehalten, ein Kolonisierungsprogramm, das zugleich eine eminent wichtige sozialpolitische Funktion hat. Die Wohnungen dort sind schlicht billiger als diejenigen in Tel Aviv oder Haifa. Der Zuzug in die Siedlungen findet so ununterbrochen statt – und eine etwaige auf Zweistaaten- und Verhandlungslösung mit den Palästinensern setzende israelische Regierung würde höchstwahrscheinlich bei der Auflösung dieser dann ja als illegal zu bezeichnenden Siedlungen bürgerkriegsähnliche Zustände provozieren, in die eine verquere soziale Energie von Seiten der Siedler eingehen würde.

Deswegen ist keine Regierung in Israel gewillt, tatsächlich irgendwelche »Friedensverhandlungen« aufzunehmen, die die mehr als 200 ausschließlich jüdischen Siedlungen und Außenposten in den besetzten Gebieten betreffen. Schließlich handelt es sich bei den in sieben große Siedlungsblöcke aufgeteilten Siedlungen um größere urbane Zentren, die alle unauflöslich mit Israel durch ein massives Netzwerk von Straßen verbunden und durch die Sperranlagen gesichert sind.

Auch der einseitige Rückzug aus Gaza sollte nicht so sehr als eine Aufgabe der Siedlungspolitik gewertet werden. Mit dem Rückzug aus dem unproduktiven und von Terrorgefahr geprägtem Gazastreifen konnte zumindest der Status Quo im Westjordanland bewahrt beziehungsweise sogar die Ausdehnung dieser Besatzungsregion erreicht werden.

Das bisherige Scheitern des nationalistischen Selbstverstaatlichungsprojekts der Palästinenser eröffnet weniger eine Perspektive der Selbstbefreiung, denn der Barbarisierung.

Mit ihrer hartnäckigen Politik des Status-quo-Bewahrens steht die Regierung aber einer ambivalenten Bevölkerung gegenüber. Zwar sprachen sich Meinungsumfragen zufolge im Juli 2013 59 Prozent der israelischen Staatsbürger für eine Wiederaufnahme der Verhandlungen aus und 55 Prozent unterstützten die Schaffung eines palästinensischen Staates an der Seite Israels. Während der neunmonatigen israelisch-palästinensischen Gespräche bestätigte die Regierung Pläne und Ausschreibungen für mindestens 13.500 neue Wohneinheiten in den Siedlungen. Eine deutliche Kritik an diesen Vorhaben findet dann doch keine lautere öffentliche Stimme und die jüngsten Gewalt- und Kriegseskalationen zwischen Hamas und Israel haben eher zu einer rechten und militaristischen Unterstützung einer Hardliner-Politik in Israel geführt.

Noch sind so die Palästinenser dazu verdammt, ein »geschichtsloses Volk« in der kapitalistischen Welt der Nationalstaaten zu sein. Ihnen mangelt es somit auch an grundlegenden bürgerlichen Freiheiten, so beschränkt und abstrakt diese auch sind, Freiheiten, denen eine Linke ansonsten immer, wenn sie eingeklagt werden, solidarisch begegnete.

Können die Palästinenser in einer Welt von Kapital und Nationalstaatlichkeit einen anderen Weg gehen als denjenigen der Selbstverstaatlichung? Diejenigen Juden, aus denen in Israel ein definitorisch hochumstrittenes jüdisch-israelisches Staatsvolk mit reaktionärer Identitätsklammer, die weit hinter einem westlichen Staatsbürgerverständnis zurückbleibt, gemacht wurde, sind schließlich auch keinen anderen Weg gegangen. Die gegenrevolutionären Implikationen der Selbstverstaatlichung erkannte kein geringerer als Theodor Herzl: »Die verzweifelten Juden müssten alle zu Anarchisten werden, wenn sie der Zionismus nicht in seinen Bannkreis zöge«.10 Zu Anarchisten wurden sie nicht, und die Palästinenser wurden und werden es ebenfalls nicht. Auch das bisherige Scheitern ihres nationalistischen Selbstverstaatlichungsprojekts eröffnet weniger eine Perspektive der Selbstbefreiung, denn der Barbarisierung.

Fortschrittsversprechen perdu

Die PLO wurde 1964 auf Initiative des damaligen ägyptischen Präsidenten Nasser in Jerusalem gegründet. Im Rahmen einer panarabischen Bewegung sollten sich die Palästinenser ihre »Heimat« zurückerkämpfen, wobei Nasser seine Führungsposition im arabischen Machtkampf unter anderem gegenüber dem Irak oder Hajj Amin al-Husseini stärken wollte. Nach dem Scheitern von Nassers panarabischer »Blitzkrieg«-Strategie gegenüber Israel, das spätestens 1967 seine militärische Übermacht unter Beweis stellen konnte, rückte der Guerillakampf in starker Anlehnung an die erfolgreiche algerische FLN in den Mittelpunkt der nationalen Befreiungsstrategie. Nassers panarabische Option wurde auch propagandistisch umgedreht: nicht die arabische Einheit (die ohnehin eine Heuchelei darstellte) sei der Weg zur Befreiung Palästinas, sondern die bewaffnete Befreiung Palästinas sollte der Weg zur arabischen Einheit sein. Terror und Diplomatie waren die üblichen Methoden der versuchten Selbstverstaatlichung. Nach dem Krieg von 1967 konnte die Fatah sowohl König Faisal von Saudi-Arabien als auch Nasser von einer politischen Zusammenarbeit überzeugen, die Golfstaaten leisteten massive finanzielle Unterstützung. 1964 fand der erste Fatah-Besuch in China statt, 1968 reiste Arafat in die Sowjetunion und über palästinensische Studenten und Arbeitsmigranten in Westeuropa wurden Kontakte zu politischen Parteien geknüpft. Mit Blick auf den Westen und die eigene Außenwirkung wurde im Januar 1969 anlässlich einer Kontaktaufnahme von Fatah und der französischen Sozialistischen Partei erstmals ein politisches Programm formuliert. In den historischen Grenzen Palästinas sollte ein »demokratischer multi-ethnischer Staat geschaffen« werden, ein »Staat ohne Hegemonie, in dem Juden, Christen und Muslime ohne Unterschied volle Bürgerrechte besitzen.«11 Die offizielle auf diplomatische Anerkennung setzende Fatah-Sprachregelung vermied so auch jeden Antisemitismus und betonte aus propagandistischen Zwecken, dass das Zusammenleben von Juden und Arabern vor zionistischer Besiedelung und israelischer Staatsgründung stets harmonisch vonstatten gegangen sei. Zuweilen befleißigte man sich einer oberflächlichen Sprache des Realsozialismus. Tatsächlich wurde mit diesen Bekundungen bis in die späten 1980er Jahre Israel als eigenständiger und existierender Staat jedoch abgelehnt.

Die PLO hatte sich stark an den staatssozialistischen Block der Sowjetunion angebunden. Einzig im militanten Nationalismus und dem Fehlen einer sozialistischen Ideologie unterschied sie sich von der UdSSR, jene wollte die PLO unter ihre Botmäßigkeit bringen, was auch die Zustimmung zu einer Zweistaatenlösung beinhaltete. Als der Realsozialismus verschwand, ging der palästinensischen Befreiungsbewegung auch ihr großer Bruder, der sie materiell und diplomatisch stets unterstützt hatte, verlustig.

Eine autonome Bewegung ergab sich aus dem nationalistischen Befreiungsprojekt nicht. Sah man während der Ersten Intifada 1987/88 den Kampf Steine schmeißender Kids gegen Panzer, der der PLO nochmals neuen kurzfristigen Rückenwind in der weltweiten Öffentlichkeit gab, so war mit der Zweiten Intifada offensichtlich, dass ein weiterer Konkurrent die PLO zu marginalisieren drohte: die islamistische Hamas. Zwei welthistorische Ereignisse beschleunigten den relativen Bedeutungsverlust der PLO: das Ende des sowjetischen Entwicklungsregimes und der Siegeszug des Islamismus. Die Entwicklungsversprechungen, die der Befreiungsnationalismus (ob in bürgerlicher Sprache oder in der des Marxismus-Leninismus der PFLP) machte, konnten nur für eine schmale Schicht von Palästinensern eingelöst werden. Im Ende der Fortschrittsideologien des Kapitals, von der die Dritte-Welt-Ideologie eine besondere Form war, hätte eine Chance liegen können. Doch auf den nationalen Erweckungsblödsinn folgte der religiöse. Der Irrationalismus nahm zu. Das wurde schon während der Großkonfrontation 1991, dem Krieg um eine »Neue Weltordnung«, offensichtlich, als die PLO Saddam Hussein unterstützte (nicht zuletzt weil große Teile ihrer militärischen Infrastruktur in Bagdad angesiedelt waren), der seinerseits als ursprünglich säkularer Herrscher den Islam und sein Herz für Palästina entdeckte.

Die irdischen Probleme der Palästinenser wie der mangelnde Zugang zu Versorgung und die Verhinderung eines guten Lebens sollten zusehends himmlisch gelöst werden. Das war schon öfters so: Bereits nach der gescheiterten iranischen Revolution, als sich für viele iranische Underdogs keine andere Perspektive als die Herrschaft der Mullahs eröffnete, blieb immer noch der Platz im Paradies und im Kugelhagel des Iran-Irak-Kriegs. Die Fremd- wie Selbstvernichtung wurde stets mit religiösen Weihen versehen.

Die Verehrung von palästinensischen Getöteten als Märtyrer ist Ausdruck einer irrationalen Tendenz, in der die Überflüssigen auf ein selbstmörderisches Programm verpflichtet werden, wo allein im Jenseits Glück und Anerkennung winken.

Die religiös-fundamentalistische Hamas trat in den 1980er Jahren als Konkurrent der PLO auf: eine reaktionäre islamistische Gang, die in ihrer Anfangszeit noch von Israel mit aufgebaut wurde, um den starken und international agierenden PLO-Gegner zu schwächen. Da die säkulare Fatah in den Augen vieler Palästinenser lediglich in die eigenen bourgeoisen Großfamilientaschen wirtschaftete und die Korruption unter ihr blühte, gab es Mitte der 1990er Jahre eine partielle Hinwendung vieler Palästinenser zur Hamas. Jene erschien gegenüber der mafiösen und korrupten Fatah-Elite als weniger »dekadent« als die Arafat-Clique und konnte so im Jahre 2006 im ein Jahr zuvor von Israel geräumten Gazastreifen einen Wahlsieg einfahren. Perspektivlosigkeit, Frustration über die Ergebnisse des Osloer Friedensprozesses und religiöse Regression taten ihr Übriges. Doch Hamas entpuppte sich rasch neben ihrer Funktion als ideeller und praktischer Gesamtsozialarbeiter als Racket. Die Saubermänner entfachten einen Tugendterror und boteten alle Konkurrenten blutig aus. Die Palästinenser können also ‚wählen‘ zwischen islamistischen Banden wie Hamas und Jihad Islami und nationalistischen Banden wie Fatah und den Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden und noch verbliebenen Pseudo-ML-Gangs wie PFLP und DFLP. Der Irrationalismus wurde propagandistisch bedient, hatte aber auch tiefere Gründe. Die Verehrung von palästinensischen Getöteten als Märtyrer ist Ausdruck einer irrationalen Tendenz, in der die Überflüssigen auf ein selbstmörderisches Programm verpflichtet werden, wo allein im Jenseits Glück und Anerkennung winken.

Ein Vergleich der Intifada 1987/88 und der nicht umsonst Al-Aqsa genannten aus dem Jahre 2000 macht das deutlich. Die »Revolte der Steine« der späten 1980er folgte noch dem Inhalt und Ausdruck nach den Revolten nordirischer, südafrikanischer und anderer Ghettokids, sie entzog sich auch erst einmal der Logik und Strategie nationaler, interklassistischer Befreiungsbewegungschoreographien, die normalerweise zwischen Diplomatie und Terrorismus pendelt. Die Kampfformen der Ersten Intifada waren der Bau von Barrikaden, der Griff zum Molotow-Cocktail und Stein, militante Demonstrationen und Streiks. Auf den Einsatz von Schusswaffen wurde verzichtet, Selbstmordanschläge gab es nicht. Im Zuge der Intifada wurde von Seiten Jordaniens die PLO zum ersten Mal als »alleinige Vertretung des palästinensischen Volkes« aufgewertet und Jordanien gab seinen Anspruch auf die Westbank auf. Einige Beobachter werteten dies als einen Versuch, der PLO die Kontrolle über die Intifada als autonome Bewegung zu überantworten. Dabei war sie – von den ersten drei Monaten abgesehen – sehr rasch von politischen Parteien gekapert und dominiert worden und konnte aus der nationalistischen Logik nicht ausbrechen. Die politischen Organisationen wie Fatah, PFLP, DFLP nahmen die ursprünglich spontan entstandenen »Volkskomitees« unter ihre Fittiche. Gleichzeitig konnten sich die Islamisten der Hamas in der Revolte und gegen einzelne Elemente der Revolte behaupten. In den besetzten Gebieten und besonders in Gaza trat Hamas als konterrevolutionäres Element gegen die selbständige Organisation der Frauen in den »Dorf- und Volkskomitees« auf, die oftmals politisch aktiv wurden, weil ihre Männer und Kinder im Knast saßen, sie waren aber auch beim Barrikadenkampf dabei. Die Frauen hatten sich in der Anfangsphase einen starken Platz in der Öffentlichkeit erkämpft. Die Zahl der Morde an Frauen aufgrund der Verletzung der »Familienehre« sank im Anfang der Intifada auf fast Null, Mädchen wurden nicht mehr so jung verheiratet oder in die Ehe gezwungen. Die Phase mit der Entwicklung eigenständiger Nachbarschafts-, Frauen- und Gesundheitskomitees war jedoch nur von kurzer Dauer.

Die Organisationen der PLO sorgten bald für eine Spezialisierung des Kampfes: Männercliquen sollten Kollaborateure auftreiben, verhören und töten, Militäreinheiten wurden gebildet und den Frauen wurde die klassische Rolle in der erweiterten Hausarbeit zugewiesen. Die PLO inklusive der »marxistischen« PFLP untersagte Abtreibungen und Geburtenkontrolle, denn palästinensische Frauen hätten die Pflicht, Kinder zu gebären.

Bereits im Sommer 1988 machte die Hamas mit Kampagnen zur Verschleierung der Frauen durch Parolen, Kommuniqués und schließlich offenem Terror mobil. Die nationalistischen Organisationen stellten die Frage der Verschleierung zugunsten eines Bündnisses mit Hamas zurück. Ende 1988 war der Schleier in Gaza durchgesetzt, die Kontrolle ging kontinuierlich an die Fundamentalisten der Hamas über.

Diese gesellschaftliche Regression zeigte sich dann auch in der Zweiten Intifada 2000: Die palästinensischen Jugendlichen stürmten mit einer erschreckenden Todesverachtung gegen die israelischen Wachtürme los. Unterfüttert wird dieser Aktivismus mit der Ideologie des Märtyrers, die allerdings schon länger ihr Unwesen in der palästinensischen Bewegung treibt. Die Symbolik des Blutes gehörte schon immer zur Staatsgründung – keine Geburt verläuft blutiger als die des Staates, doch der religiös munitionierte Terror, der auch die Selbstauslöschung in Kauf nimmt, steht für eine internationale Tendenz der vollständigen Gegenaufklärung.

Während der Al-Aqsa-Intifada schossen mit Kalaschnikows ausgestattete Kämpfer hinter den Steine werfenden Kids – militärisch zwecklos – in die Richtung der Siedlungen. Auch dies ist die Symbolik der Vertreibung und des Mordes – also auch die Symbolik der Staatsgründung. Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wurde diese irrationale Tendenz von Hamas und anderen religiösen Gangs weiter radikalisiert. Besonders die Selbstmordanschläge zeigen, dass ein Programm des schrankenlosen Irrationalismus, das Selbst- und Fremdvernichtung mit sexistisch-patriarchalen Versprechungen aufs Jenseits kombiniert, unter einigen Abgehängten in den besetzten Gebiete (und nicht nur bei ihnen) eine relative Resonanz hervorrufen konnte. Nur scheinbar verkörpert der Islamismus tiefe religiöse Gewissheit. Das Sich-Versteifen auf ein offensichtlich verschüttetes, wenn nicht sogar phantasmagorisches Fundament terminiert in der Praxis der Djihadisten nicht umsonst in Mord und Selbstmord – also im Nichts. Nicht mehr der Stein oder die Kalaschnikow ist Symbol der scheinbaren Selbstermächtigung, sondern der Sprenggürtel, der nun auch den eigenen Tod von vornherein in Kauf nimmt, und die selbst fabrizierten Raketen, die je nach politischer Konjunktur nach Israel gejagt werden.

Kein Licht am Ende des Tunnels: Gaza

Was ist Gaza? 1,8 Millionen Menschen sind durch Betonmauern, riesige Zäune und ein Meer, das man nur wenige Kilometer befahren darf, eingesperrt. Es gibt weder einen Hafen noch einen Flughafen. Alle Grenzübergänge sind seit Jahren fest verriegelt, von Freizügigkeit von Personen und Reisefreiheit kann keine Rede sein. 60 Prozent der Palästinenser in Gaza sind arbeitslos und total verarmt. Die seit 2007 von Israel und Ägypten gemeinsam verhängte Blockade, die besonders nach dem Putsch der autoritären und mit brachialer Gewalt gegen die Muslimbrüder vorgehenden Militärs in Ägypten verschärft wurde, verschlechtert systematisch die Versorgungslage und lässt eine eigenständige wirtschaftliche Entwicklung in Gaza nicht zu. Unter Gaza verläuft mit insgesamt zweitausend Tunneln ein weitreichendes Tunnelsystem, manche sind wenige Meter hoch, andere Lastwagenhoch gebaut und durch Beton abgestützt. Die Mehrzahl der Tunnel werden kommerziell genutzt, eine Minderzahl, die nach Israel gelegen ist, militärisch-terroristisch. Vor allem die etwa 1.800 Schmuggelröhren nach Ägypten dienen der Versorgung.

Als im Januar 2008 palästinensische Kämpfer einen mehrere hundert Meter langen Teil der Grenzmauer zu Ägypten sprengten und viele tausend Palästinenser über die Grenze in die angrenzende ägyptische Provinz strömten, wurden in Israel Stimmen laut, die Verantwortung für die Versorgung der 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens wieder – wie es bis 1967 der Fall war – Ägypten zu überantworten. Gaza ist lästig. Im November 2010 forderten Hilfsorganisationen wie Amnesty International und Medico International mit einem Appell an die internationale Gemeinschaft das sofortige Ende der Gaza-Blockade. Sie klagten an, dass das Verbot von Exporten aus dem Gazastreifen nicht aufgehoben wurde und dass es vor allem an Material für den Wiederaufbau fehle. Zudem sei die Bevölkerung stark in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und nach Angaben der UN zu 80 Prozent von externen Hilfslieferungen abhängig. Nach Berechnungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) lebten im Jahr 2006 81 Prozent der 1,5 Millionen Einwohner des Gazastreifens unterhalb der Armutsgrenze. Nach FAO-Angaben waren 70 Prozent der Bevölkerung in Gaza nicht in der Lage, ihren täglichen Nahrungsmittelbedarf ohne zusätzliche Hilfe zu decken und hatten nur 2-3 Stunden pro Tag Zugang zu Wasser.

Jeff Halper von den israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD), führt aus, dass ein Vergleich zwischen den militarisierten Enklaven Gaza und Westbank mit dem Apartheidsregime in Südafrika fehl geht: ging es dort um die schärfste Kontrolle und Aufsicht der schwarzen Arbeiterklasse, die jedoch arbeiten sollte (zu welch beschissenen Bedingungen auch immer), so geht die israelische Politik in die entgegengesetzte Richtung, nämlich die Palästinenser am Arbeiten zu hindern, zu dem rechtlichen Ausschluss kommt auch noch der Ausschluss aus der Arbeit hinzu. Dass Israel laut Halper durch seine Politik des Ausschlusses eine noch schlimmere Lebenssituation für die Palästinenser produziere als das Apartheid-Südafrika für die schwarze Bevölkerung, trifft nicht zu. Israel ist kein Apartheidsregime, auch wenn jüngst von solchen Überlegungen zu hören war. So hatte das israelische Verteidigungsministerium Mitte Mai 2015 angeordnet, dass im besetzten Westjordanland Araber und Juden künftig in getrennten Bussen fahren müssten. Doch eine anberaumte »Testphase« von drei Monaten, in der all jene Palästinenser, die mit einer Sondergenehmigung in Israel arbeiten, bei der Heimfahrt nicht mehr neben Siedlern sitzen dürfen, wurde nach internationalem Aufschrei bereits am nächsten Tag durch Netanjahu gestoppt.

Wichtiger ist jedoch der Hinweis auf den Unterschied, den Halper anführt: Ausschluss aus der Arbeit statt hierarchischer Verwertung in einem rassistisch gestaffelten Arbeitsmarkt stellt die Lebensrealität vieler proletarisierter Palästinenser unter israelischer Besatzung oder in von der Palästinensischen Autonomiebehörde beziehungsweise Hamas kontrollierten Gebieten dar. Tatsächlich sind aufgrund eines Überangebots an Arbeitskraft die nicht-israelischen Palästinenser mehr oder weniger entbehrlich. Sie werden zu einem Problem, das man in erster Linie sicherheitspolitisch bannen muss. Je entbehrlicher die Arbeitskraft ist, desto stärker tritt an die Stelle der kontrollierenden Verwertung die verwahrende Kontrolle.

Je überflüssiger der Mensch ist, desto empfänglicher wird er aber auch für Irrationalismen aller Art. Die in den solchermaßen abgeriegelten Gegenden der Überflüssigen anzutreffenden antiemanzipatorischen Verarbeitungsmuster dieser Situation liegen auf der Hand. Mike Davis’ These, dass Gott in den alten Städten der industriellen Revolution gestorben und nun in den post- und nicht-industrialisierten Städten der Dritten Welt wiederauferstanden sei, findet hier ebenfalls ihre Bestätigung.12 Tatsächlich hat in den Armutsquartieren Marx die Bühne verlassen und Mohammed führt die Regie – der stalinisierte und nationalisierte Marx/Engels der PFLP und DFLP spielt kaum noch eine Rolle, führend sind islamistische Gangs wie Hamas, die allerdings gegenüber den Salafisten und Jihad Islami noch eine abrufbare pragmatische Seite aufweisen.

Hamas ist ein ambivalentes Phänomen. Ursprünglich eindeutig in der islamisiert-antisemitischen Tradition der Muslimbrüder eingefasst und mit Anspruch auf ganz Palästina antretend, argumentiert sie je nach Konjunktur auch pragmatisch und zeigt sich gelegentlich mit Israel verhandlungsbereit. Zugleich ist sie von den extremeren Konkurrenzunternehmen der Salafisten und des Islamischen Staates bedroht, sie wird vom in der globalen Staatengemeinschaft auf Anerkennung buhlenden schiitischen Staatsislamismus des Iran verbal und je nach Situation auch materiell unterstützt, obwohl die Hamas sunnitisch ist. Eine versuchte Anlehnung an den barbarischen Irrationalismus des Islamischen Staates ist denkbar, wenn auch real kaum durchsetzbar. Die dominierende Fraktion der Hamas muss anderen Sachzwängen folgen als es eine dauermobilisierte Terror- und Gewaltgang vermag. Internationale Unterstützung erfuhren sie zuerst von den Saudis, dem Iran und mittlerweile vor allem durch Katar.

Der Islamismus geht auch im Gazastreifen von einer gläubigen Mittelschicht aus, die ein nicht nur instrumentelles Verhältnis zu Fragen der Armut und der sozialen Gerechtigkeit hat. Sie löst die Frage der »sozialen Gerechtigkeit« vor dem Hintergrund einer Koran-Exegese, in der der Aufstand der Armen oder gar der Klassenkampf vollständig suspendiert, ja gotteslästerlich ist, und stellt Streik, Aufstand, Klassenkampf einen sozialpazifizierenden Kanon einer muslimischen Verständigung aller Schichten entgegen.

Wird das irrationale Vertrösten auf das Paradies und Israel-Hass dominieren, oder kann sich der berechtigte Wunsch nach Versorgung und materieller Absicherung gegen die herrschenden Kräfte artikulieren?

Auch die Nazis hatten mit Winterhilfswerk und Deutscher Arbeitsfront nicht nur ein instrumentelles Verhältnis zur »sozialen Frage«, wie es der linke Reformist und Sozialdemokrat gerne behauptet, der das alleinige Sorgerecht fürs Soziale gepachtet zu haben meint, sondern »das Soziale« war vollständig in der nationalen Volksgemeinschaftsideologie aufgehoben (ohne freilich die Klassenstrukturen selbst aufzuheben und zu überwinden), die den Klassenkampf immer als schädlich erachtet.

Diese konterrevolutionäre Dimension des Sozialen im Islamismus bleibt oft undurchschaut, nicht zuletzt bei den auf Hilfe und Schutz Angewiesenen. Durch sie kann der Islamismus eine hohe Mobilisierungskraft in der außer Kurs gesetzten Bevölkerung erwirken. Die Unterstützung der Hamas ist ungeachtet ihres Wahlerfolges im Jahre 2006 jedoch geringer als gemeinhin angenommen. 2007 gab es den Machtkampf zwischen der Fatah und der Hamas, in der auch andere Gruppierungen gegen Hamas auftraten (von konkurrierenden djihadistischen Gruppen bis hin zu säkularen). Die Proteste wurden jedoch blutig erstickt, etliche Gegner von Hamas wanderten in die Knäste, wo sie wiederholt Folter ausgesetzt sind und ein Faustpfand gegenüber ihren Familien darstellen. Im Zuge des Arabischen Frühlings tauchte ein eindeutiger Facebook-Aufruf von jugendlichen Palästinensern aus Gaza auf, die Hamas genauso in die Hölle wünschten wie Israel, ein wenig nachhaltiger dissidenter Funke, der schnell wieder erloschen ist.

Am Vorabend des letzten Krieges und in aktuellen Meldungen ist von einer Distanz der Bevölkerung zu Hamas zu hören. Das zeigt, dass die Bevölkerung keinesfalls identisch mit den Herrschenden im Gazastreifen ist. Es besteht stets die Gefahr, dass Gangs jenseits der Hamas durch provokatorische Raketenabschüsse wieder den Auslöser für einen neuerlichen verheerenden Krieg liefern. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass Hamas bei innenpolitischen Problemen erneut versucht, durch einen nicht zu gewinnenden Krieg den sozialen Unmut in einen nach außen, gegen Israel gerichteten Krieg zu verwandeln. 2014 ging die djihadistische Seite des Raketenkriegs der Hamas im eigenen Land jedoch verloren – und sie musste rational aushandeln, was aushandelbar erscheint: Die Öffnung der Grenzen für Waren und Handel in beide Richtungen und perspektivisch einen eigenen Hafen und Flughafen waren schließlich die letzten Forderungen der Hamas im Waffenstillstandsgerangel. Sind sie bereits Ausdruck einer ermüdeten Bevölkerung, die auch in jüngsten Berichten (Juni 2015) Unmut gegenüber der Politik der Hamas-Verwaltung artikuliert? Wird das irrationale Vertrösten auf das Paradies und Israel-Hass dominieren, oder kann sich der berechtigte Wunsch nach Versorgung und materieller Absicherung gegen die herrschenden Kräfte artikulieren? Im Moment will jüngsten Umfragen zufolge jeder zweite Palästinenser im Gazastreifen schlicht raus aus dem Gebiet.

Für Internationalismus und Universalismus

Die Situation in Gaza vor Augen ist dem »Unsichtbaren Komitee« auch zuzustimmen, wenn es schreibt, dass das Kapital nicht versuche, »die Welt unter dem Kommando des Fortschritts im Gleichschritt marschieren zu lassen … die Welt entkoppelt (sich) in Zonen hoher Mehrwertschöpfung und in vernachlässigte Zonen, in Kriegsschauplätze und befriedete Räume. Es gibt den Nordosten Italiens und Kampanien; letzteres ist gerade gut genug, die Abfälle des ersteren aufzunehmen. Es gibt Sophia-Antipolis und Villiers-le-Bel. Es gibt die City und Notting Hill, Tel Aviv und den Gazastreifen … Es gibt Leben, die zählen, und andere, die zu zählen man sich nicht einmal die Mühe macht.«13

Vollständig in die Irre geht die Einschätzung des »Unsichtbaren Komitees« in Hinblick auf die Vielzahl konkurrierender bewaffneter Rackets und Banden mit den illustren Namen Iz Adin al-Qassam, Saraya al-Quds, Islamischer Djihad, Al-Aqsa-Märtyrer-Brigaden und Tanzim al-Fatah. Jenen attestiert es Effizienz und Unberechenbarkeit, weil sie diffus und sich in ihren Attacken gegenseitig überbietend für den israelischen Gegner ein unfassbares Phänomen bleiben. Den sich zwischen diesen Gangs abspielenden, bewaffnet ausgetragenen Konkurrenzkampf preisen sie als Modell des kommenden Aufstands: »Wenn wir den Bürgerkrieg, selbst zwischen uns, akzeptieren, dann nicht nur, weil es an sich eine gute Strategie ist, um die imperiale Offensive aus dem Konzept zu bringen. Sondern auch und vor allem, weil es mit der Vorstellung übereinstimmt, die wir uns vom Leben machen.«14 Der Bürgerkrieg von Rackets als Vorstellung des besseren Lebens – damit veranschaulicht das Unsichtbare Komitee, wie weit jegliche Befreiungsvorstellung, will sie sich auf Akteure im Nahen Osten beziehen, regrediert ist. Ein solcher Bürgerkriegsnihilismus ist nur noch eine blutige Farce, die der Tragödie der anarchistischen Idealisierung der kollektivistischen Kibbuzim, deren militärische und kolonialistische Funktion nicht durchschaut wurde, und einem falschen antiimperialistischen Vertrauen folgt. Das »Vertrauen, das in den Volkskrieg gesetzt wurde«, so formulierte es 1980 ein kritischer Ex-Maoist, sei »eine Kraft, die nicht nur neue Wege der Sozialrevolution eröffnet, sondern auch eine Eigendynamik entwickeln sollte, die sich schließlich auch gegen potentielle neue Herren und Abhängigkeiten richten werde.«15

Auch wenn Antideutschtum und Befreiungsnationalismus in der deutschsprachigen Linken zurücktreten, so kann sich die Linke mehrheitlich nicht zu einer internationalistischen und universalistischen Position durchringen, die den möglichen wie verhinderten Klassenkampf in den Mittelpunkt stellt und sich gegen das kriegerische Morden im Nahen Osten deutlich ausspricht.

Abgesehen von der kurzzeitigen Platzbesetzungsbewegung 2011/2012, die sich entlang von sozialen Fragen wie den explodierenden Mieten und höheren Lebenshaltungskosten entzündete und sich in die weltweite Bewegung der Plätze einreihte, sind die vorherrschenden Tendenzen in Israel und den palästinensischen Gebieten eher negative Modelle und Vorschein einer düsteren Zukunft.

Schließlich spielt besonders das mythisch überwölbte »Palästina«, das es zu befreien gelte, in der Propaganda des weltweiten Djihad eine fundamentale Rolle. Dieser bedroht nicht nur in Form des Islamischen Staates in einer beispiellosen Art und Weise Israels Sicherheit wie auch das Leben von Juden überall, wie es seit dem Zweiten Weltkrieg nicht der Fall war.

Das Hauen-und-Stechen im Nahen Osten bleibt nicht vor Ort; der konterrevolutionäre Pseudoantagonismus »Muslim gegen Jude« wandert um die Welt und unter Migrationspopulationen, die sich den Palästinensern verbunden fühlen, macht sich nicht nur Israel-Hass, sondern auch der islamisierte Antisemitismus breit. Den wahren Antagonismus zu betonen, haben sowohl diejenigen Linken aufgegeben, die folkloristisch in Pro-Palästina-Demos mitmarschieren als auch diejenigen, die in Deutschland mit Israelfahnen herumwedeln. Auch wenn Antideutschtum und Befreiungsnationalismus in der deutschsprachigen Linken zurücktreten, so kann sich die Linke mehrheitlich nicht zu einer internationalistischen und universalistischen Position durchringen, die den möglichen wie verhinderten Klassenkampf in den Mittelpunkt stellt und sich gegen das kriegerische Morden im Nahen Osten deutlich ausspricht. Eine antimilitaristische Demonstration von Israelis und anderen in Berlin Ende Juli 2014 blieb so auch auf etwa 300 Personen beschränkt.

Während des letzten Gaza-Krieges war man sich nicht nur in der bürgerlichen Presse einig: Ein böses Wort ist schlimmer als eine durch Bomben verursachte böse Verletzung oder gar der Tod. Israels von der Hamas hervorgerufener Krieg gegen die palästinensische Zivilbevölkerung, der zu 2.000 Toten und Zehntausenden Verletzten führte, ist ein Verteidigungskrieg minderer Schwere, eine judenfeindliche Parole dahingegen ein Skandal, der das zivilisierte Abendland in seiner ganzen Moralität herausfordert. Schöne politisch korrekte, metropolitane Welt hin oder her – natürlich hat der nicht enden wollende Israel-Palästina-Konflikt negative Auswirkungen, die sich globalisieren.

Ein Großteil der deutschen Medien versteifte sich unmittelbar während des letzten Gaza-Krieges auf die ewige Bekundung, dass Israel legitimerweise seine Sicherheitsinteressen durchsetzt. Als Antisemitismus auf Pro-Palästina-Demos in Deutschland auftauchte oder tatsächlich ein vehementer Judenhass artikuliert und wie in Frankreich zur Bedrohung für Juden wurde, sekundierte das Feuilleton mit tapferen Beiträgen einer kurzen Geschichtsschreibung des deutschen Antisemitismus von Luther über Wagner bis Hitler – als hätte man dadurch irgendetwas über den Israel-Palästina-Konflikt und seine irrational-reaktionäre Verarbeitung verstanden.

Überboten wird dies nur noch von einer sehr spezifisch deutschen »linken Publizistik«, in welcher der Tenor lautet: Ein Palästinenser mehr oder weniger – was liegt daran? »Ich lasse einfach alle Antisemiten erschießen.« (Friedrich Nietzsche) Die Kälte gegenüber den massakrierten Palästinensern in den sich wiederholenden Kriegen zwischen Israel und der Hamas wirft ein schales Licht auf die zur Schau gestellte Israelfreundschaft der Linken, die dem postfaschistischen philosemitischen Habitus der Nachkriegsgesellschaft ähnelt. Dem völlig entgegen steht der immer wieder aufflackernde, doch stets schwächer strahlende Antizionismus, er ist der »Sozialismus der dummen Kerle«, zugleich eine Ideologie untergehender linker Schichten, die sich nach dem Scheitern des Antiimperialismus umso hoffnungsloser an alte Anti-USA- und Anti-Israel-Reflexe ketten und die reaktionär-antisemitische Tendenz der Hamas systematisch leugnen müssen.

Im Weltbild des Antiimperialisten können die »Verdammten dieser Erde« nur das Richtige wollen, eine Naivität, die systematisch verkennen muss, dass der Antisemitismus auch unter Unterprivilegierten und in migrantischen Milieus wächst und möglicherweise Anschluss an den internationalen Islamismus sucht, wie die Terroranschläge in Frankreich und die sie ausführenden Akteure aus den Banlieues zeigen.

Die aufstrebenden, opportunistischen Schichten sind indes philosemitisch und Israel-begeistert und zeigen sich angesichts einer chaotisch werdenden Welt weniger vom Arm und Reich selektierenden Sicherheitsimperialismus denn von der Terrorgefahr irritiert. Die Verdammten dieser Erde können es ihrer Meinung nach auch gerne bleiben. Diese Linken sind sprachlos angesichts eines deutschen Establishments, das auf der konformistischen und mehr proisraelischen als anti-antisemitischen »Steh auf!«-»Fanmeile des Guten« (B.Z.), die aus zivilgesellschaftlichen Fans ihrer eigenen guten Gesinnung von AfD bis Gysi-Linke reicht, zu besichtigen war. Nur merkwürdig, dass die vermeintlich gute Gesinnung hinter den globalen Verhältnissen zurückbleibt, und ihr zu systematischer rassistischer Ausgrenzung, Verfolgung und Tod nichts einzufallen vermag.

Die anti-universalistische Linke, sowohl in ihrer vorgeblich antiimperialistischen wie in ihrer vermeintlich Israel-solidarischen Ausprägung, widerspiegelt bloß die Enthumanisierungstendenzen sowohl unter den arabischen und türkischen Migranten-Prolls, die voller patriarchaler Selbstinszenierung in Berlin »Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf‘ allein« skandieren, wie auch unter den antiarabischen Pogromleuten in Israel, die feiern, dass man aus Gaza einen Friedhof zu machen habe, und Antikriegsaktivisten durch die Stadt jagen.

Walter Hanser

  • 1.Zit. nach: Nathan Weinstock, Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus. Herausgegeben und eingeleitet von Eike Geisel und Mario Offenberg, Berlin 1975, 58.
  • 2.Shlomo Sand, Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010, insbesondere: 408-448.
  • 3.Zit. nach: Dan Diner, Israel in Palästina. Über Tausch und Gewalt im Vorderen Orient, Königstein/Ts. 1980, 48.
  • 4.Dies zeigen die (unkritisch kommentierten) Dokumente in Jürgen Mümken/Siegbert Wolf (Hg.), »Antisemit, das geht nicht unter Menschen«. Anarchistische Positionen zu Anarchismus, Zionismus und Israel. Band 2: Von der Staatsgründung bis heute, Lich 2014.
  • 5.Zit. nach: Mario Offenberg, Kommunismus in Palästina. Nation und Klasse in der antikolonialen Revolution. Mit einem Vorwort von Johannes Agnoli, Meisenheim am Glan 1975, 209.
  • 6.So Jean Paul Sartre im Gespräch mit Arlette El Kaim-Sartre und Ely Ben Gal im Frühjahr 1972, in: Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage und andere Texte. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Vincent von Wroblewsky. Politische Schriften Band 2, Reinbek bei Hamburg 1994, 93-129, hier: 127.
  • 7.Hans Lebrecht, Die Palästinenser. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt am Main 1982, 112ff. In weiten Teilen folgt Lebrecht allerdings einer proarabischen und der Sowjetideologie verpflichteten Interpretation der Genese des Israel-Palästina-Konflikts.
  • 8.Hintergründe der Intifada im 21. Jahrhundert, Aufheben 10 (2002), in deutscher Übersetzung: Beilage des Wildcat-Zirkulars 62 (2002), online abrufbar unter: wildcat-www.de.
  • 9.Naomi Klein, Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus, Frankfurt am Main 2008, 618.
  • 10.Zit. nach: Tamar Bermann, Produktivierungsmythen und Antisemitismus. Eine soziologische Studie, Wien 1973, 158.
  • 11.Zit. nach: Helga Baumgarten, Palästina: Befreiung in den Staat, Frankfurt am Main 1991, 238.
  • 12.Mike Davis, Planet der Slums (Aufsatzfassung), online abrufbar unter: materialien.org/planet/Planetofslums.pdf, 11.
  • 13.Unsichtbares Komitee, An unsere Freunde, online abrufbar unter: ill-will-editions.tumblr.com, 98.
  • 14.Ebenda, 91.
  • 15.Peter Tautfest, Palästina-Solidarität nach Indochina, Holocaust und Camp David, Befreiung 17/18 (1980), 114.