Iran: Revolte oder Revolution?

Wenn Sie beginnen, diese Zeilen zu lesen, sind Ihnen bestimmt der Name und ein Slogan bereits vertraut: Zhina (Mahsa) Amini und „Frauen, Leben, Freiheit“. Aber wer war Mahsa? Warum dieser Slogan? Ist es ein Aufstand oder eine Revolution, die sich vor unseren Augen im Iran abspielt?

Das Scheitern der Revolution von 1979, gefolgt von der Errichtung eines theokratischen Regimes, ist nicht zu leugnen. Dieses Regime ist das Ergebnis eines historischen Missgeschicks, dessen Bezeichnung selbst ein Oxymoron ist, Islamische Republik: Könnte eine Republik theokratisch sein? Könnte eine Theokratie demokratisch sein?
Dieses Regime konnte und wollte die Antagonismen der iranischen Gesellschaft nie mäßigen oder auf sie reagieren. Es hat sie verschärft und verschlimmert. Es hat immer versucht, eine Krise zu schaffen, um die vorherige zu verbergen. Es hat die Gesellschaft in einer mehr als mittelalterlichen Reaktion verschlungen. Es hat eine regelrechte sexistische Apartheid gegen die Hälfte der Gesellschaft installiert: die Frauen.
Der Kampf der Frauen für ihre Emanzipation ist nicht neu: Bibbi Maryam Bakhtiari war eine wichtige Figur der konstitutionalistischen Revolution von 1905-1906 im Iran. Sie setzte sich für die Rechte der Frauen ein. Sie stellte sich gegen einen reaktionären Mullah namens Scheich Fazlollah Nouri.
Doch die Emanzipation der Frauen stieß auch auf Hürden, wenn sie selbst keine wirklichen Akteurinnen werden konnten und gesellschaftliche Entwicklungen sie nicht berücksichtigte. Reza Pahlavi, der Gründer der Pahlavi-Dynastie, dessen Sohn 1979 gestürzt wurde, wollte das Verbot des Tragens des islamischen Schleiers durchsetzen. Er erließ am 8. Januar 1936 ein Verbot des Hijabs in Schulen, Universitäten und Behörden. Millionen von Frauen entschieden sich daraufhin – oder wurden von ihren Vätern, Brüdern oder Ehemännern gezwungen – sich in den Häusern einzuschließen. Sechs Jahre später ordnete das Ministerium für „Kultur“ derselben Monarchie an, dass Frauen ohne islamischen Hidschab keine Schulen, Universitäten und staatlichen Behörden mehr betreten durften!

Ayatollah Khomeini übernahm die Führung der Revolution von 1979. Er hatte die finanzielle Unterstützung der Bazar-Händler (die Handelsbourgeoisie), die damals sehr wichtig war. Er hatte auch das organisatorische Netzwerk der Moscheen hinter sich, das der Schah (der König) im Gegensatz zu allen anderen linken, marxistischen oder sogar nationalistischen Oppositionen, die er unterdrückt hatte, in Ruhe agieren lies. Khomeini war sich jedoch darüber im Klaren, dass er trotz der finanziellen und organisatorischen Unterstützung das Regime nicht stürzen konnte. Er versprach allen, auch den Frauen, das Blaue vom Himmel, indem er beispielsweise sagte, dass der Hidschab nicht obligatorisch sein würde. Dieses Versprechen hielt nicht lange an. Am 11. Februar 1979 wurde das Schah-Regime gestürzt und am 8. März 1979 erklärte Khomeini: „Frauen müssen mit dem islamischen Hidschab ausgehen… Mir wurde gesagt, dass Frauen in den Behörden nackt herumlaufen.“ Der Widerstand der Frauen ließ nicht lange auf sich warten. Die Frauen waren am selben Tag anlässlich des 8. März und die nächsten fünf Tage auf den Straßen gegen die islamische Hijab-Pflicht. Sie riefen unter anderem: „Freiheit ist universell“ und „Wir haben die Revolution nicht gemacht, um uns zurückzuentwickeln“.

In den vier Jahrzehnten seines unheilvollen Existierens hat das Mullah-Regime sein frauenfeindliches Gesetzesarsenal kontinuierlich ausgebaut. Es hat auch enorme Mittel zur Unterdrückung eingesetzt, die sich zum Teil speziell gegen Frauen richten. Die Ershad-Patrouille («Führung») oder Sittenpolizei ist ein hauptsächlich frauenfeindliches Repressionsmittel in Form von weiß-grünen Vans besetzt mit vier PolizistInnen, von denen zwei Frauen sind. Das Budget, das dieser Patrouille für das laufende Jahr zugeteilt ist, ist zweieinhalb Mal so hoch wie das Budget für medizinische Notfälle im Land. Aufgrund der statistischen Undurchsichtigkeit ist es nicht möglich, eine Bilanz der Verfolgung durch die Sittenpolizei zu erstellen, aber FeministInnen hatten vor acht Jahren Zahlen für ein Jahr genannt: 2.910.798 Ordnungsrufe, 225.134 schriftliche Verpflichtungen in den Vans den Hijab zu respektieren, und 18.171 Gerichtsverfahren. Die Frauen im Iran lehnen das Gesetz der islamischen Hijab-Pflicht mehrheitlich ab.

Zhina (Mahsa) Amini war eine 22-jährige iranische Kurdin, die am 13. September mit ihrer Familie nach Teheran reiste. Ein Van der Sittenpolizei hielt sie vor einer U-Bahn-Station an, nicht wegen eines fehlenden Hidschabs, sondern wegen ihres schlecht sitzenden Kopftuchs, das eine Haarsträhne sichtbar lies – für junge Menschen wie sie seit Jahrzehnten eine Form des Widerstands. Zhinas Bruder sagte zu ihnen: „Nehmt sie nicht mit, wir sind hier Fremde“. Jedes Wort in diesem Satz hat eine wichtige Bedeutung. Hier ist ein Bruder, der seine Schwester verteidigt, während das Regime von den Männern verlangt, dass sie den weiblichen Familienmitgliedern die Einhaltung archaischer religiöser Regeln aufzwingen. Er sagt ihnen auch: „Wir sind Ausländer“. Das Regime hat KurdeInnen immer als gefährliche Ausländer betrachtet. KurdInnen dürfen beispielsweise nicht als Kandidaten bei den Wahlen antreten, da alle rechtlich gesehen nur Schiiten sein müssen und die meisten Kurdinnen Sunniten sind. KurdInnen wie auch BelutschInnen, Aseris, AraberInnen und alle anderen im Iran lebenden Volksgruppen haben nicht einmal das Recht, ihre Sprache in Schulen, Behörden usw. zu praktizieren. Persisch ist die einzige Amtssprache. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass die PolizistInnen, nachdem sie Zhina an Bord gebracht worden war, sie noch härter schlugen, als sie ihren Akzent bemerkten. Zhina starb den Behörden zufolge drei Tage später im Krankenhaus, oder vielleicht schon früher, da sie vor ihrer Verlegung ins Krankenhaus tödliche Schläge auf den Kopf erhalten hatte. Der Schock über Zhinas Tod war so groß, dass am 16. September Proteste vor dem Krankenhaus begannen. Die sozialen Netzwerke explodierten mit dem Hashtag #Mahsa_Amini (auf Persisch), so dass der Allzeitrekord von Twitter gebrochen wurde. Das Regime, das durch ein solches Ausmaß an Protesten aufgeschreckt wurde, bemühte sich nach Kräften, Zhinas Beerdigung in ihrer kurdischen Stadt Saqqez sehr ruhig zu gestalten, scheiterte dabei jedoch völlig. Mehrere hundert Menschen versammelten sich. Auf dem Friedhof kommt es zu zwei wichtigen Ereignissen: Die Frauen nehmen ihre Hidschabs ab und lassen die Kopftücher in der Luft wehen, eine kleine Gruppe von TeilnehmerInnen ruft: „Frauen, Leben, Freiheit“ auf kurdisch (Ein Slogan der in Rojava populär wurde, wo die Frauen der YPJ Daesh besiegt haben). Die Proteste dauern auch mehr als einen Monat nach Zhinas Tod noch an. Hunderttausende der an den Protesten beteiligten Frauen legen während der Demonstrationen ihren Hidschab ab oder verbrennen ihre Kopftücher. „Frauen, Leben, Freiheit“, was während Zhinas Beerdigung skandiert wurde, verbreitete sich zunächst in anderen Städten in Iranisch-Kurdistan und dann wie ein Lauffeuer in mehr als 131 Städte, in denen die Proteste im Gange sind. Außerdem hat jede Nationalität diese drei Wörter in ihre Sprache übersetzt: Arabisch, Aserbaidschanisch, Turkmenisch, Belutschisch, Lurisch usw. Die Islamische Republik hätte nie gedacht, dass der Tod einer jungen Kurdin eine solche Solidarität zwischen den Menschen verschiedener Kulturen und Nationalitäten hervorrufen könnte, die sie stets zu spalten versucht hat.
Das Mullah-Regime erschafft immer eine Krise, um die vorherige zu vertuschen, auch hier hat es verloren. Es leugnet den Tod von Zhina durch tödliche Schläge auf den Kopf und erklärt, sie habe chronische Krankheiten gehabt. Die Proteste wachsen und die Pasdaran (Revolutionsgarden) gehen dazu über, die Stützpunkte kurdischer Gruppen und Parteien aus dem Iran in Kurdistan-Irak zu bombardieren. Die BelutschInnen am anderen Ende des Landes, die aus Solidarität mit den KurdenInnen demonstrierten, wurden massiv massakriert – mindestens 91 Tote allein am 30. September. Die StudentInnen solidarisieren sich und protestieren mit den KurdenInnen und Belutsch*Innen in Teheran, doch man schließt sie in die Universitäten ein. Um noch mehr abzulenken, verursachte man einen Großbrand im Evin-Gefängnis, einem der sichersten Gefängnisse der Welt, in dem Hunderte politische Gefangene inhaftiert sind, und behauptete, die gewöhnlichen Gefangenen seien dafür verantwortlich.

Die vorherigen Aufstände, insbesondere die von 2018 und 2020, hatten Ursachen wie die Erhöhung der Preise für Grundnahrungsmittel und Kraftstoffe. Sie erstreckten sich über wenige Tage und wurden hart niedergeschlagen. Für den Aufstand von 2020 spricht Amnesty International von mehr als 350 Toten und Reuters von mehr als 1500. Die aktuellen Proteste sind im zweiten Monat angelangt und dauern an. Die aktuelle Bewegung scheint sich an die vollständige oder eingeschränkte Abschaltung des Internets anzupassen, indem sie andere Organisationsformen wählt, was zuvor nicht der Fall war. Die Menschen demonstrierten sporadisch, ohne sich vorher anzukündigen, während die Protestierenden in der aktuellen Bewegung Termine für eine oder mehrere Städte ankündigen und die Veranstaltungen tatsächlich stattfinden. Einige DemonstrantInnen wenden auch andere Taktiken an. Für die sehr wichtige Stadt Ahvaz wurde ein Termin für Freitag angegeben, aber die ganze Stadt war schon am Vortag in Bewegung. Während bei früheren Revolten vor allem die ärmsten Bevölkerungsgruppen in den Städten und Vorstädten teilnahmen, sind nun auch andere Schichten und Klassen beteiligt. Allein in Teheran sind die Demonstrationen in den extrem armen Vierteln im Süden der Millionenmetropole genauso zahlreich wie in den gehobeneren Vierteln im Norden. Noch nie hat eine Bewegung zu einer so breiten künstlerischen Unterstützung geführt wie jetzt: Die Zahl der revolutionären Lieder, Zeichnungen und Videoproduktionen der aktuellen Bewegung innerhalb eines Monats war noch nie so hoch wie jetzt. Sehr junge SchülerInnen und vor allem OberschülerInnen haben noch nie einen so großen Anteil an der Bewegung gehabt wie derzeit. Sie demonstrieren praktisch jeden Tag, erscheinen ohne Hidschab im Unterricht, gehen dann auf die Straße und werfen die aus den Schulbüchern gerrissenen Fotos von Khamenei auf den Boden. Die ArbeiterInnen beginnen, die Arbeit niederzulegen und streiken, nicht um Lohnerhöhungen zu fordern, die sie dringend benötigen, sondern um gegen die politische Unterdrückung zu protestieren. Die Arbeiter*Innen nichtstaatlicher Firmen in der Ölindustrie, einer Schlüsselindustrie im Iran, haben bereits gestreikt und das Regime hat über 100 von ihnen verhaftet. Ihr mobiles Internet wurde abgeschaltet, damit sie keine Nachrichten versenden können. Sogar das fließende Wasser und der Strom in ihren Lagern und Schlafsälen wurde abgestellt, obwohl sie in Gebieten des Landes arbeiten, in denen die Temperaturen manchmal auf 50 Grad steigen. Ein weiteres Merkmal der aktuellen Bewegung ist die internationale Solidarität, die es in dieser Form so noch nie zuvor gegeben hat.
Die Unterdrückung ist heftig. Laut einer, von nichtstaatlichen Menschenrechtsorganisation veröffentlichten, Bilanz wurden bis zum 18. Oktober 2022, dem 31. Tag der Bewegung, 215 Menschen im Iran im Zusammenhang mit den Protesten getötet. Darunter 27 Menschen die unter 18 Jahren alt waren. Die Zahl der Verletzten geht in die Tausende. Die Zahl der willkürlichen Verhaftungen ist unbekannt. Allein in Tabriz nahm der Geheimdienst aufgrund der Aufrufe zu Demonstrationen und der historischen Bedeutung dieser aserbaidschanischen Stadt 1700 Personen präventiv fest.

Also Aufstand oder Revolution? Zitieren wir die Antwort von Djaafar Azimzadeh von der im Land ansässigen, aber verbotenen „Freien Union der Arbeiter des Iran“. Er wurde wegen seines Arbeiteraktivismus mehrfach inhaftiert. Am 17. Oktober veröffentlichte er einen Artikel mit der Überschrift „Aufstand des iranischen Volkes, eine große historische Revolution“:
„Die Welt ist Zeuge der Formierung der größten Revolution des 21. Jahrhunderts im Iran (…). Diese Revolution wird auf ihrem Weg gigantische Auswirkungen haben, nicht nur im Iran, sondern im gesamten Nahen Osten und sogar weltweit(…). Es ist eine Revolution für Freiheit und Gleichheit(…). Diese Revolution ist die Revolution der Frauen, Kinder und Jugendlichen, Arbeiter, Lehrer und Schüler des Computerzeitalters und des weltweiten Informationsaustauschs(…)“.

Nader TEYF
Groupe Commune de Paris de la FA

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