Anmerkungen zur Heuchelei der bürgerlichen „Anti-Antisemiten“

23. Oktober 2023 Max Brym
Nach dem Angriff der Hamas am 7. Oktober hat sich die gesamte bürgerliche Öffentlichkeit in Deutschland, so scheint es, gegen den Antisemitismus gestellt. Aber nichts könnte weniger wahr sein.


Es gibt in Deutschland jede Menge zionistische Antisemiten. Darunter fällt z.B. die rechtspopulistische
AfD, denen Juden am liebsten in Israel sind. Die AfD will mit der deutschen Geschichte, speziell mit Auschwitz, abschließen. Nicht umsonst erklärte der ehemalige Vorsitzende der AFD Gauland, dass Auschwitz nur ein „Vogelschiss in der deutschen Geschichte“ gewesen sei.
Persönlich kann ich mich noch an Leute erinnern in den sechziger Jahren, welche den israelischen General Moshe Dajan mit dem General Rommel verglichen und voller Bewunderung waren. Als Mensch, der 18 Verwandte in der Shoah verlor, ist es für mich in der momentanen Zeit nervlich belastend, Artikel zu schreiben. Aber es muss sein.

In diesem Artikel geht es darum, die Verlogenheit der „Anti-Antisemiten“ aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft darzustellen. In der Periode vor dem gegenwärtigen Krieg in Israel-Palästina stiegen in Deutschland die antisemitischen Straftaten von 1.050 im Jahr 2019 auf 2.639 im Jahr 2022. Die Zahl der manifesten Antisemiten liegt zwischen 8 und 10 % bei den Bundesbürgern, hinzu kommt die Zahl der latenten und peripheren Antisemiten. Letztere sind die, welche das eine oder andere antisemitische Vorurteil entweder ausdrücken oder im Kopf haben. Dazu könnte ich ein ganzes Buch schreiben. Des Öfteren wird mir in München aufgrund meiner Abstammung erzählt: „Du redest so leicht, du bist Jude, du hast ja Geld“. Meine Antwort besteht meist darin zu sagen: „Ich hoffe das du Recht hast, gehen wir zur Bank vielleicht glaubt dir der Filialleiter. Mir glaubt er es nämlich nicht.“
So aber jetzt zur Heuchelei der bürgerlichen „Anti-Antisemiten“ in Deutschland, die den latent vorhandenen Antisemitismus in der imperialistischen BRD nur im Zusammenhang mit Israel-Debatten anführen. In dem Zusammenhang wird meist der Begriff Antisemitismus falsch verwendet. Plötzlich ist der Antisemitismus etwas Inflationäres und wird nur auf die arabische Community geschoben. Das ist pure Heuchelei. Auf fast jedem Schulhof wird permanent mit der Bezeichnung „Hey du Jude“ gearbeitet. Dagegen unternehmen die Bildungsminister abgesehen von einigen Lehrkräften nicht das geringste.
Antisemitismus in der so genannten Mitte der Gesellschaft
Vor einigen Tage hat der TV-Philosoph Richard David Precht in seinem Podcast mit Markus Lanz behauptet, dass ihre Religion es den orthodoxen Juden verbieten würde zu arbeiten: „Diamantenhandel und ein paar Finanzgeschäfte ausgenommen.“ Statt zu widersprechen, stimmte der Ko-Moderator, der allseits bekannte Markus Lanz, zu.
Diesen Satz, der von antisemitischen Stereotypen nur so trieft, hat das ZDF jetzt aus der aktuellen Folge von „Lanz & Precht“ gelöscht. Dazu gab es ein paar salbende Worte: „Wir bedauern, dass eine Passage in der aktuellen Ausgabe von ‚Lanz & Precht‘ Kritik ausgelöst hat“, schreibt das ZDF. Und weiter: „An einer Stelle wurden komplexe Zusammenhänge verkürzt dargestellt, was missverständlich interpretiert werden konnte.“
Precht selbst sagte in einem nachträglich eingefügten Statement vor der Folge, dass eine Formulierung gefallen sei, die Anstoß erregt und zu Kritik geführt habe. „Das möchten wir natürlich nicht und das bedauern wir auch sehr, dass das so ist.“ Der TV-Philosoph behauptet, missverstanden worden zu sein. Eine inhaltliche Entschuldigung ist das nicht und Markus Lanz nahm seinen Kollegen Precht öffentlich in Schutz. Wo sind da die selbsternannten Anti-Antisemiten?
Historisches zum bürgerlichen Antisemitismus
Wer erinnert sich noch an die Möllemann-Friedman-Auseinandersetzung? Wer hat es noch im Kopf, als der kürzlich verstorbene Autor Martin Walser einen wirklich antisemitischen Roman gegen seinen Erzfeind Marcel Reich-Ranicki schrieb? Wer erinnert noch an die Affäre um den Bibliothekar der Uni Bielefeld Johannes Rogalla von Bieberstein, welcher ein unsägliches Buch schrieb unter dem Titel „Jüdischer Bolschewismus“? Verdrängt werden darf auch nicht die so genannte Historikerdebatte aus dem Jahr 1986, die von Professor Ernst Nolte ausging. An diese Affären und antisemitischen Positionen aus dem Bürgertum selbst oder von Teilen des Bürgertums kann hier nur kurz erinnert werden.
Möllemann kontra Friedman
Im Frühjahr 2002 griff Jürgen Möllemann (damals Stellvertreter des FDP-Vorsitzenden Westerwelle und NRW-Landeschef) den stellvertretenden Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland Michel Friedman diffamierend an. Er behauptete, dass Friedman durch seine arrogante und gehässige Art den Antisemitismus in Deutschland fördere. Ergo Michel Friedman wurde nicht argumentativ angegriffen, sondern als Person Friedman, als Jude. Im gleichen Zusammenhang wurde der gegenwärtig steigende Antisemitismus in Deutschland mit der Person Ariel Sharon in Verbindung gebracht. Auf gut Deutsch hieß das, „die Juden haben den Antisemitismus selbst zu verantworten“.
Westerwelle deckte bis nach der Bundestagswahl Wahl 2002 seinen Stellvertreter und weite Teile der bürgerlichen Presse solidarisierten sich mit Möllemann. Erst nach dem damaligen Wahldesaster der FDP wurde Möllemann zum Rücktritt gezwungen. Einzig die große alte Dame der FDP Hildegard Hamm-Brücher brachte die Sache auf den Punkt. Sie trat nach über 50-jähriger Mitgliedschaft aus der FDP aus, mit der Begründung: „Die FDP ist nicht mehr meine Partei, sie wird rechtslastig und hat antisemitische Tendenzen.“ In einem Brief an Westerwelle erklärte sie: „Sie haben lange die rechten und antisemitischen Tendenzen innerhalb der FDP gedeckt. Die FDP ist nicht mehr meine Partei.“ Damit näherte sich Hildegard Hamm-Brücher der damaligen Realität innerhalb der FDP stark an.
Auch in der gegebenen Zeit kann es der FDP wieder einfallen, auf die Möllemann Linie zurückzukehren. Der Wirtschaftsliberalismus der FDP ist als solcher am Ende, was die letzten Wahlergebnisse zeigen. Den Freien Wählern hingegen hat das antisemitische Schmutzblatt in der Schultasche des 17-jährigen Hubert Aiwanger bei seinem Bierzeltauftritten vor der letzten bayerischen Landtagswahl nur genutzt.
Martin Walser gegen Marcel Reich-Ranicki
Der angeblich große deutsche Autor Martin Walser schrieb im Jahr 2002 ein offen antisemitisches Buch gegen Marcel Reich-Ranicki. Das Buch hatte den Titel: „Tod eines Kritikers“. Der Literat Martin Walser wünscht in diesem Buch dem bekannten Kritiker den Tod. Ausdrücklich weist er auf die jüdische Abstammung der Romanfigur „Andre Ehrl König“ hin. Die Todesdrohung liest sich wie folgt: „Nimm dich in acht Andre Ehrl König, ab null Uhr wird zurückgeschlagen.“
Der Verlag setzte innerhalb von drei Tagen die Erstauflage des Buches ab. In München und sicher nicht nur dort konnte beobachtet werden, wie an den Verkaufsständen Menschentrauben geduldig standen, um endlich in den Genuss einer literarisch antisemitischen Tötungsphantasie zu gelangen. Martin Walser benutzte in seinem Machwerk sämtliche antisemitische Stereotype. Der beschriebene Andre Ehrl König ist ein Mensch, der nicht richtig Deutsch kann und trotzdem „deutsche Literaten“ kritisiert. Die Romanfigur „Andre Ehrl König“ (Reich-Ranichki) ist „geldgeil“ und stellt „jungen blonden Frauen“ nach. Die ach so liberale SZ verteidigte damals den potenziellen Antisemiten Martin Walser. Auch die die linksliberale taz tat dies.
Johannes Rogalla von Biebersteins „Jüdischer Bolschewismus“
Im Jahr 2010 stand auf haGalil, der größten jüdischen Website in deutscher Sprache:
„Brym hat auf haGalil unzählige Artikel zur Frage des Antisemitismus geschrieben. Besonders nachhaltig wirkten seine Angriffe gegen den ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann und den Autor des Buches ‚Jüdischer Bolschewismus. Mythos und Realität‘. Beiden warf Brym in Zusammenarbeit mit Andrea Livnat von haGalil Antisemitismus vor. Dieser Vorwurf wurde von dem Rektorat der Universität Bielefeld für so schwerwiegend gehalten, daß es eine Kommission von Geschichtsprofessoren eingesetzt hat, um ihn zu überprüfen.“
Diese Kommission konnte jedoch keinen Antisemitismus bei ihrem Bibliotheksdirektor von Bieberstein entdecken. Entdeckt haben den Antisemitismus sehr viele Studenten an der Uni Bielefeld. Ihre Proteste führten zum Rücktritt des Bibliotheksdirektors Bieberstein.
In der Tat in dem Buch wird darauf hingewiesen, wie viele Juden bei den Bolschewiki waren und deshalb die Bolschewiki eine „jüdisch geplante Revolution machten“. Wenn man den Text im Kontext liest, wird Hitler zum Verteidiger des Westens gegen die „ursprünglich stattgefundene bolschewistische jüdische Revolution“.
Diese These vertrat auf einer Rede zum Volkstrauertag 2010 der langjährige CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann. Ausdrücklich bezog er sich auf dem Bielefelder Autor und das Buch „Jüdischer Bolschewismus“. Hohmann sprach wie Bieberstein von den Juden als „Tätervolk“. Es dauerte einige Zeit, bis Hohmann aus der CDU-Bundestagsfraktion ausgeschlossen wurde und als fraktionsloser Abgeordneter noch einige Jahre in Berlin verbrachte.
Die Kritik an Hohmann und anderen reaktionären CDU-Politikern kam dabei nicht aus der Union, sondern von außen. Was zeigt, dass auch die Union, bei aller Freundschaft zu Frau Knobloch in München, eine offene Flanke in Richtung Antisemitismus hat. Erst wenn antisemitische Äußerungen und Publikationen von außenstehenden der Öffentlichkeit präsentiert wurden und der Druck von unten stark genug war, musste der eine oder andere zurücktreten. Das bürgerliche Establishment ist nicht im Stande, realen Antisemitismus in Deutschland zu bekämpfen.
Historikerstreit
Im Jahr 1986 tobte in Deutschland der so genannte Historikerstreit, eine angeblich zeitgeschichtliche Debatte in der BRD, um die Einmaligkeit der Shoah und die Frage, welche Rolle dieser für das Geschichtsbild Deutschlands spielen soll.
Auslöser war ein Artikel Ernst Noltes in der FAZ vom Juni 1986, der den Holocaust in Form rhetorischer Fragen als Reaktion der deutschen Faschisten auf die vorausgegangenen Massenverbrechen der Stalinschen Säuberungen und das Gulag-System in der Sowjetunion darstellte.
Ergo stellt er die Vernichtung der Juden als eine Art von Verteidigungsaktion des deutschen Faschismus auf die vorhergegangenen Verbrechen des Stalinismus dar. Schöner und besser konnte man den Faschismus nicht rehabilitieren. Auch verschiedene andere Autoren wiesen genauso wie Autoren aus dem rechtsradikalen Spektrum auf den starken Anteil von Juden in der bolschewistischen Führung hin. Die Debatte fand hauptsächlich in der großbürgerlichen FAZ statt, die sich heute als große Gegnerin des Antisemitismus gibt.
Fazit
Es kann an dieser Stelle nicht auf die Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland und seine Förderung durch Teile das deutschen Kapitals in seiner Komplexität im vorletzten Jahrhundert eingegangen werden, nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass der Antisemitismus immer noch ein wesentliches Element der verbliebenen oder neuen Kleinbürger in der bundesdeutschen Gesellschaft ist. Der Antisemitismus scheint immer noch bestimmte Schichten anzusprechen, welche sich nicht auf marxistischer Basis den Charakter der kapitalistischen Krise erklären können. Dieser Artikel hat nur die Aufgabe darauf hinzuweisen, welche Heuchelei Israel-solidarische „Anti-Antisemiten“ momentan in Deutschland betreiben. In Wirklichkeit ist ihnen der tägliche und reale Antisemitismus ziemlich egal.

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