Sudan und Algerien : Marxismus und die Zeit der Revolution
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Was in der Vergangenheit Jahre des Kampfes erforderte, kann während einer Revolution in Wochen, Tagen oder sogar Stunden erreicht werden. Doch der Sturz einer Regierung erweist sich oft nur als Beginn eines viel größeren Kampfes. Anne Alexander über die Aufstände im Sudan und in Algerien und die Frage, wie der Marxismus zu einem Verständnis der Dynamiken von Aufstandsbewegungen beitragen kann. Von Anne Alexander
Wir treffen uns um 16 Uhr: Revolutionszeit.« Dieser Satz in einem Aufruf der Sudanese Professionals Association auf ihrer Facebook-Seite zu den Massenprotesten am 12. April macht für diejenigen, die die Rolle der Massenbewegung auf eine Fußnote in einer weiteren tristen Abfolge von Militärputschen reduzieren wollen, wahrscheinlich wenig Sinn. Aber für diejenigen, die das atmen, was Rosa Luxemburg »die sinnliche Luft der Revolution« nannte, drückt er etwas Tiefgründiges aus. Sie verstehen, dass sich »Revolutionszeit« von anderen Zeiten unterscheidet.
»Revolutionszeit« ist etwas, das die Hunderttausenden im Herzen der Aufstände in Algerien und im Sudan aus der Geschichte zurückgewonnen haben. Es ist eine berauschend schnelle Zeit; Bewegungen wachsen wie Unkraut im Sommer, Menschen ändern ihre Ideen über Nacht, alte Gewissheiten lösen sich auf. Was in der Vergangenheit Jahre des Kampfes gekostet hat, kann in Wochen, Tagen oder sogar Stunden erreicht werden. Es dauerte vier Monate, bis Omar El Bashir von seinem Amt als Präsident, das er 30 Jahre lang innehatte, verdrängt wurde. Sein Verteidigungsminister, Ahmed Awad Ibn Auf, konnte sich nur 30 Stunden als Leiter der Übergangsbehörde des Militärs halten – aufgrund von Massenprotesten, die die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung forderten.
Das Ausmaß dieser Prozesse kann aber auch dazu führen, dass sich die »Revolutionszeit« langsam anfühlt. Das »Ende« des Diktators erwies sich als der Beginn eines viel größeren Kampfes, denn der Prozess setzte sich fort, um diejenigen herauszufordern und aus dem Amt zu entfernen, die vormals unter seiner Diktatur Machtpositionen inne hatten. Wer weiß, wie lange die »Revolutionszeit« dauern wird? Der Zyklus von Revolution und Konterrevolution in Ägypten zwischen 2011 und 2013 betrug nur etwas mehr als zwei Jahre. Die kollektive Handlung von Millionen von Menschen, deren politisches Bewusstsein plötzlich erwacht ist, kann die bestehenden Herrscher in eine tiefe Krise stürzen. Sie werden jedoch immer versuchen, die Zeit zurückzudrehen, um ihre Herrschaft mit allen Mitteln wiederherzustellen. In einem sehr realen Sinne ist daher »Revolutionszeit« immer geborgte Zeit.
Wenn die Zeit knapp ist, was können Revolutionäre tun, um das Beste daraus zu machen? Wann ist es notwendig, für Teiländerungen am System zu kämpfen? Und wann wird die Verwirklichung von Reformen zum Mittel, mit dem der revolutionäre Prozess aufgehalten wird?
»Gegenseitige Aktion«: Vom Ökonomischen zum Politischen und wieder zurück
Luxemburgs klassische Analyse von Massenstreiks im frühen 20. Jahrhundert in Russland bietet den Rahmen für die Analyse, wie sich wirtschaftliche und politische Kämpfe im Sudan und in Algerien heute gegenseitig beeinflussen. Wie Luxemburg feststellte, gibt es zwischen den beiden »verflochtenen Seiten« des revolutionären Prozesses – d.h. zwischen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen – »die vollständigste Wechselwirkung« und keine geradlinigen Schritte.
Wo ist diese Dynamik der »Wechselwirkung« des Klassenkampfes verwurzelt? Auf einer sehr grundlegenden Ebene drückt sie das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik im Herzen der kapitalistischen Gesellschaft aus.
Trotzki, der wie Luxemburg an der Revolution von 1905 in Russland teilnahm, schlug seine Theorie der ungleichen und kombinierten Entwicklung vor, um die Besonderheiten der sozialen und wirtschaftlichen Formationen in Russland zu erklären. Er argumentierte, dass sie mehrere »Stufen« der Revolution (eine Revolution, die auf die Errichtung einer kapitalistischen demokratischen Republik anstelle der zaristischen Autokratie abzielte und eine soziale Revolution gegen den Kapitalismus) zu einem nahtlosen Prozess der »permanenten Revolution« bindet.
Die spezifische Dynamik der Wechselwirkung in den algerischen und sudanesischen Aufständen spiegelt vergleichbare Prozesse ungleicher und kombinierter Entwicklung wider. Die ungleiche Entwicklung zeigt sich in der Art und Weise, wie einige Wirtschaftszweige in die globalen und regionalen Märkte integriert sind; sie zieht beispielsweise Investitionen von multinationalen Konzernen wie den europäischen Öl- und Gasunternehmen an.
Dazu gehören etwa die Schaffung einer Fracking-Industrie in der algerischen Sahara oder die Agroexporteure aus dem Golf, die sich an einer massiven Landnahme im fruchtbaren Niltal des Sudans beteiligt haben, während andere Sektoren zurückbleiben. Die Vorteile dieser Investitionen sind natürlich sehr ungleich verteilt und füllen die Taschen lokaler Geschäftsleute und regierungsnaher Armeeoffiziere. Eine Entwicklung, die verschiedene Phasen des Kapitalismus kombiniert (nicht präkapitalistische und kapitalistische soziale Formationen wie in Trotzkis Beispiel), hat eine leicht brennbare Mischung geschaffen.
Diese Prozesse haben zu einer Arbeiterklasse geführt, die ebenfalls ungleichmäßig und kombiniert ist. Arbeiter und Arme sind die Mehrheit und diejenigen, die eine formelle Anstellung haben oder an großen Arbeitsplätzen arbeiten, sind oft die Minderheit. Die Entwicklung der Aufstände und der ihnen vorausgegangenen sozialen Kämpfe in Algerien und im Sudan bestätigen aber, was die Erfahrungen Tunesiens und Ägyptens im Jahr 2011 gezeigt haben: Dass es möglich ist, im kollektiven Handeln eine Einheit zwischen Erwerbstätigen und Arbeitslosen, zwischen denen, die relativ »privilegiert« sind (sei es in Bezug auf Gehalt, Bildungsniveau und Berufsstand), und denen, die marginalisiert und sozial ausgegrenzt sind, aufzubauen.
Diese Art von Klasseneinigkeit ist möglich und sie ist mächtig. Arbeiter in »alten« Industrien oder in traditionell strategischen Wirtschaftszweigen, wie dem Verkehrswesen und der Kommunikation (Eisenbahnen, öffentliche Busse, Post und Telekommunikation), bringen die Macht der Konzentration – einer Macht durch Masse – mit sich, was echte störende Auswirkungen hat.
Sie können sich auch auf jahrzehntelange Traditionen der Organisation der Arbeiterklasse stützen, die eine symbolische Wirkung über ihren Sektor hinaus haben. Dies war der Fall bei den Streiks beim algerischen Automobilhersteller SNVI genauso wie bei der Beteiligung von Arbeitern in Port Sudan und der Eisenbahner am sudanesischen Aufstand. Unterdessen sind die neuen Gewerkschaften unter der Führung von Lehrern und Ärzten in einem Kampf verwurzelt, unerbittlichem Druck neoliberaler »Reformen« zu widerstehen, die darauf abzielen, neue Märkte und neue Möglichkeiten der Gewinnerzielung innerhalb und neben dem zerfallenden Kadaver des Sozialstaates zu schaffen.
Die Kombination von Kämpfen spiegelt die Gestalt der Wirtschaft und Gesellschaft im Rahmen des »real existierenden Neoliberalismus« wider. Diese hybriden Formen des Alten und Neuen, das Zusammenpfropfen von Elementen aus der staatskapitalistischen und neoliberalen Phase der kapitalistischen Entwicklung mit ihrem widersprüchlichen Druck auf die Konzentration und Fragmentierung der Arbeiterklasse und den ständigen Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Selbständigkeit und Arbeitslosigkeit können sich endlos reproduzieren. Doch die revolutionären Wellen der Jahre 2010-13 und 2018-19 zeigen, dass die explosive Qualität des Amalgams, welches die sozialen, politischen und ideologischen Formen der ungleichen und kombinierten Entwicklung darstellt, immer noch verspricht, viel tiefere Veränderungsprozesse freizusetzen.
Revolution, Unterdrückung und Befreiung
Die Dynamik des wechselseitigen Handelns zwischen wirtschaftlichen und politischen Kämpfen in einer sich ausbreitenden revolutionären Krise wirft auch sofort Fragen der Unterdrückung auf. Dieser Punkt war den russischen Revolutionssozialisten im 20. Jahrhundert klar, die sich verpflichteten, den Kampf gegen die organisierte Bigotterie des Zarenstaats, die gegen religiöse Minderheiten (einschließlich Juden und nicht-orthodoxe Christen) vorging, als einen integralen Bestandteil ihres Kampfes um den Aufbau einer revolutionären Organisation zu betrachten. Die heutigen Aufstände in Algerien und im Sudan haben ebenfalls den Charakter von »Festivals der Unterdrückten« angenommen. Frauen sind im Sturm auf die Straße gegangen und Gruppen, die rassistischen Diskriminierungen ausgesetzt sind, sind zu einem integralen Bestandteil der Massenbewegungen geworden.
Ein konkretes Beispiel ist die triumphale Ankunft von Delegationen aus Darfur beim Massen-Sit-in vor dem Army General Command in Khartum – trotz der langen Geschichte des Regimes, Rassismus gegen Darfuris einzusetzen, um Spaltung und Misstrauen zwischen verschiedenen Teilen der Opposition zu schüren. Bilder der Regenbogenfarben der Amazigh-Flagge, die von streikenden Arbeitern während der Massenproteste in Algerien neben der weiß-rot-grünen Nationalflagge geschwungen wurden, bieten ein weiteres. Der Tod von Kamaleddine Fekhar, einer Menschenrechtsaktivistin, die mehrfach wegen ihrer Kampagne für die Rechte der Minderheit der Mzab inhaftiert worden war, löste am folgenden Freitag eine Welle der Solidarität bei den Massenprotesten aus, wobei Demonstranten im ganzen Land zu ihrem Gedenken Schweigeminuten einlegten und viele die markante weiße Schädelmütze der mosabitischen Gemeinschaft trugen.
Doch weder im Sudan noch in Algerien darf es Anlass zur Selbstzufriedenheit geben. Innerhalb der Massenbewegungen muss gegen Unterdrückung und für die Forderungen unterdrückter Gruppen gegen den Staat gekämpft werden. Algerische feministische Aktivistinnen, die am 29. März einen Block zu den Demonstrationen organisierten und neben den Forderungen der Hirak (Bewegung) als Ganzes auch Forderungen nach Geschlechtergleichstellung erhoben, wurden von einigen Protestteilnehmern schikaniert ;stark frauenfeindliche Bilder wurden in Kommentaren auf ihren Facebook-Seiten veröffentlicht. Unterdessen werden im Sudan – obwohl die Charta der Opposition für die vorgeschlagene Übergangszeit, die Declaration of Freedom and Change, die Stärkung der sudanesischen Frauen fordert – Hindernisse für die uneingeschränkte Beteiligung von Frauen in allen Bereichen des politischen und sozialen Lebens nicht von heute auf morgen verschwinden. Darüber hinaus sind die erzielten Fortschritte in beiden Fällen von einer Vertiefung und Erweiterung der Revolution und insbesondere von der Zersetzung des bestehenden Staates abhängig.
Revolution und Dimensionen der Selbstorganisation
Wie bereits erwähnt, ist es naiv, die Massenmobilisierungen im Sudan und in Algerien als Ausbruch im Vakuum zu bezeichnen. Im Gegenteil, in beiden Fällen gibt es eine Vorgeschichte des Aktivismus, die direkt in die Entwicklung des neuen Zyklus des Protestes eingeflossen ist.
Die Sudanese Professionals Association (SPA), die ihrerseits eine Koalition unabhängiger Gewerkschaften und Berufsverbände ist, hat entscheidend dazu beigetragen, die Proteste zu einer Massenbewegung zu formen, indem sie Forderungen gestellt, Slogans koordiniert und auf die Anwendung bestimmter Taktiken durch ihre Netzwerke von Aktivisten gedrängt hat – wie z.B. koordinierte Streiks Anfang März und der Massen-Sit-in vor dem Armeehauptquartier in Khartum am 6. April oder der zweitägige Generalstreik am 28. und 29. Mai. Die SPA existierte vor dieser Bewegung, aber sie wurde auch durch die Bewegung von unten verändert, so dass ihre Führer eine Schlüsselrolle bei den Verhandlungen mit dem Militär neben etablierten Oppositionsparteien spielen.