Eine analytischer Überblick des Protestaufstands der Iraner:innen
Übersetzung: Lower Class Magazine (Iran Revolution) t.me/LowerClassMagDecember 29, 2022
Von: Khosrow Parsa in Zeitschrift für Kritik der politischen Ökonomie Dezember 2022
https://telegra.ph/Eine-analytischer-%C3%9Cberblick-des-Protestaufstands-der-Iranerinnen-12-29
Drei Monate sind ein guter Zeitraum für die Analyse der jüngsten Ereignisse. Wir sprechen hier von einem Aufstand bzw. einer Bewegung die fast unerwartet ausbrach. In ihrem Verlauf erreichte sie einen Punkt wo es einigen als eine potentielle Revolution und anderen als eine Revolution, im Begriff sich zu vollziehen, erschien. Für einige die den Weg der Ignoranz eingeschlagen haben sind die Dimensionen nicht so ausgeprägt, dass sie „besorgniserregend“ wären; diejenigen die in ihren Illusionen das alles als ein Spiel der ausländischen Feinde sehen, werden zwangsläufig untergehen.
Was eine Revolution ist, was ihre Phasen sind und was revolutionäre Vorbereitung bedeutet sowie was die Unterschiede zwischen einer politischen demokratischen Revolution und einer sozialen Revolution sind wurden bereits oft diskutiert, wir sehen davon ab diese zu wiederholen. Es muss nur festgehalten werden dass diese Kämpfe auf lang oder kurz, mit hoher Wahrscheinlichkeit siegreich sein werden; sollte dem so sein wird es eine demokratische Revolution sein und nicht die Produktionsverhältnisse direkt ändern. Jede soziale Revolution wird aber auch verschiedene demokratische Revolutionen umfassen.
- Der Erste Punkt der analysiert werden muss ist die Tatsache, dass die letzten drei Monate eine schicksalsbestimmende Zeit und ein qualitativer Sprung waren. Das heißt die iranische Gesellschaft wird nicht zu der vorherigen Situation zurückkehren. Zweifelsohne sind die Veränderungen weitreichender als man zu gedenken vermochte. All dies vollzieht sich in einer Schnelligkeit was nur Anzeichen für die tiefgreifenden Widersprüchen und das Fehlen jeglicher Perspektive der Verbesserung ist. Oft wurde dazu geschrieben aber wenig in der Tiefe Analysiert
- Nicht nur über die Zeitigkeit sondern auch über den Frauencharakter des Aufstandes wurde, jenseits allgemeiner Züge, wenig ausführlich analysiert und es wurden diesbezüglich keine Vorhersagen getroffen. Vielleicht ist das auch eine normale Sache, da die Widersprüche in der Gesellschaft so vielfältig und Tiefgreifend waren, dass es nicht klar sein konnte welcher der Widersprüche zur Explosion führen wird: Frauenrevolution, Landesweit, National, Peripherie…
- Die Courage, der Mut und die Kontinuität der Jugend und vor allem der Frauen ist nicht nur beeindruckend sondern historisch. Es ist nicht nur überraschend sondern verdient auch auch alle Anerkennung.
Ich weiß, dass über die sozialen Grundlagen des Phänomens und über die Generationsfrage viel gesprochen wurde, aber die weitreichende Bedeutung dieser Ereignisse wird von Soziologen und Philosophen noch Jahrzehnte analysiert werden. Selten können wir uns daran erinnern, dass eine demokratische Revolution, weltweit und aus allen sozialen Schichten soviel Unterstützung erfahren hat.
- Wir müssen zwangsläufig von Punkten die bei den meisten politischen Aktivist:innen und Intellektuellen Konsens sind weitergehen und den Fokus auf Kontroverseres legen:
Die Führung der Bewegung war bis dato horizontal, netzwerkartig und von den kämpfenden Menschen selbst. Die offenen und verborgenen Behauptungen von Lügen über die Führerschaft der Proteste sind so jämmerlich, dass sie nichts erreichen werden. Diejenigen die im Ausland Behauptungen aufstellen, Lügen nicht nur, sie stiften auch Verwirrung in den Köpfen. Dies ist den Anführern auf der Straße klar und wahrscheinlich werden sie sich Lösungen für dieses Problem suchen. Wir hoffen, dass sie das tun.
Horizontale Netzwerke sind der einzige Weg die Bewegung vor Manipulationsversuche zu schützen. Sie hat aber auch ihre Beschränkungen. Es besteht stets die Hoffnung das eine Massenbewegung sich selbst verwirklichen kann ohne unter die Führung einer totalitären Autorität zu geraten. Ich kenne nicht den Ausweg, weil es noch nicht genug Erfahrung in dem Bereich gibt aber ich sehe eine Gefahr die der Bewegung lauert. Es kann sein, dass wir die demokratischsten und humansten aller Beziehungen aufbauen wollen aber was ist mit unserem Gegenüber? Was ist mit politischen Kräften die einen Führungsanspruch stellen? Was ist mit denen die alles vereinnahmen und sich zu Führern stilisieren wollen? Jetzt wo noch nicht so viel passiert ist gibt es schon lauter Lügen, was erst wenn es Errungenschaften gibt die sie unter sich aufteilen wollen?
Jenseits der traditionellen Opposition sehen wir das neue „Figuren“ entstehen oder aufgebaut werden. Es ist nicht klar ob zurecht oder Unrecht. Sie haben viele Möglichkeiten und eine Positionierung zu ihnen muss gut durchdacht sein.
- Diese Bewegung hat meiner Meinung nach bis zum heutigem Tag, und bis vor kurzen, fast schon aus Absicht, sich davor bewahrt, explizit politisch zu werden. Sogar Parolen wie „Freiheit allen politischen Gefangenen“ waren nicht gängig. Ich würde gerne verstehen woran diese Verweigerung liegt. Seit 40 Jahren haben Aktivist:innen und politische Gefangene das Feuer des Kampfes am brennen gehalten und viele dabei ihr Leben gelassen. Viele sind immer noch in den Knästen. Wo ist ihr Platz in der Bewegung? Die Frauenrevolution mit all ihrer Größe schön und gut aber wo ist die Erzählung der Frauen und Männer im Gefängnis, aus welchem Grund wird ihre Stimme beschwiegen?
Die Frauenrevolution sollte nicht als Revolution mit reinem Frauencharakter gesehen werden. Es ist eine Revolution in der die Frauen eine herausragende Rolle spielen aber nicht die einzige. Die Frauen haben gezeigt dass sie die Vorreiter:innen einer breiteren sozialen Transformation sind. Wenn die Analyse ist, dass durch eine Vielfalt der Parolen der Fokus auf die Situation der Frauen geschwächt wird, muss man sagen, dass es ein absoluter Fehler ist. Jede soziale Frage hat seine eigene Stellung vor allem in dem jetzigen Aufstand, wo alle der Überzeugung sind, dass er ein Ventil für die Explosion vielfältiger Widersprüche in der Gesellschaft war. Richtig ist, dass man das Thema relativiert, wenn man ihm ausweicht. Außerdem schadet eine Geringschätzung anderer Ideale nicht nur der Sache sondern birgt Gefahr, dass sie isoliert wird.
Frau bedeutet Leben und Freiheit und politische Gefangene sind ein Schlüsselelement darin.
- Vor diesem Aufstand gab es verschiedene Bewegungen mit eigenständigen Forderungen im ganzen Iran. Von Lehrer:innen und Rentner:innen über ökonomisch Geschädigte bis hin zu den streikenden Arbeiter:innen, Bauern, Angestellten und Lkw-Fahrern. Es gab die Hoffnung, dass diese Bewegung sich dem allgemeinen Aufstand anschließt. Es gab auch beachtliche Bemühungen in diese Richtung. Viel Zeit ist nicht vergangen, weiterhin besteht die Möglichkeit einer Ausweitung der Beteiligung, zumal es positive Anzeichen in diese Richtung gibt. Jedoch bedarf diese Bewegung ein stärkeres Momentum. In den bestehenden Bewegungen gab es noch keine Gelegenheit um klare Forderungen zu erheben. Deswegen hat diese potentielle Kraft sich noch nicht mit allen Mitteln beteiligt. Wahrscheinlich wird zukünftig die Solidarität zunehmen, ich denke jenseits der Motivierung der Massen zur Teilnahme an den Kämpfen müssen ihre Forderungen im sozialen und individuellen Rahmen beachtet werden. Der soziale Rahmen der Beteiligung d.h. zum Beispiel Räte und Gewerkschaften waren bis zu einem gewissen Grad – soweit unter Repression möglich – präsent. Jedoch ist der Großteil der Entscheidungsfindung über die Beteiligung immer noch im individuellen Rahmen. Ich meine hier vor allem die Mehrheit der politisch Unbewussten oder diejenigen mit einem relativen Bewusstsein deren ökonomische Situation sich verhindernd auf sie auswirkt. Dieses Problem versteht jeder der mit den Massen in Verbindung steht. Das tausendfache Wiederholen der Wichtigkeit der Beteiligung oder sogar das Anklagen der Menschen (aufgrund der ausbleibenden Beteiligung) von Leuten, die getrennt von den Massen sind, ist ein Versuch, die Menschen hinters Licht zu führen. Ein gutes Beispiel davon sind die Aufrufe der Redenschwinger im Ausland, die mit ihrer eigenen unsäglichen Vergangenheit über die Notwendigkeit der Einheit des Volkes im Inland schwadronieren. Sie fordern das Volk immer wieder mit Scharfmacherei auf, sich der Revolution anzuschließen und auf die Straßen zu gehen, während sie sich selbst damit begnügen, aus sicherer Entfernung untereinander die Frage der Führung zu klären (!!).
- In dieser Bewegung gab es positive Entwicklungen in der nationalen Frage und der Frage der Völker. Die Vorreiterschaft, die Vertiefung und Ausbreitung der Kämpfe in Kurdistan und anschließend in Belutschistan hatte einen sehr positiven Effekt. Auch die Bewegung des Volkes in Azerbaijan, Gilan, Luristan und in ganz Iran war solidarisch. Die bestehenden Probleme sind zwar nicht gelöst und zu erwarten, dass sich die nationalen Fragen in der schnelle lösen wäre falsch, aber die Richtung der Bewegung ist vielversprechend. Die Parolen die in Solidarität zu Zahedan bis Kurdistan gerufen werden sind motivierend für jeden Menschen im Iran und öffnen Lösungswege für die Zukunft.
- Wie gesagt sind wir am Anfang des Weges. Keine große soziale Transformation der Welt vollzieht sich ohne verschiedene Phasen und ohne Höhen und Tiefen zu durchlaufen. Bereits bis heute sind die Resultate aus der Perspektive einer sozialen Transformation beeindruckend. Das ist auf alle Fälle der Weg der vor den Menschen im Iran liegt. Was die Herrschenden machen wollen, was sie machen können und für wie lange wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass sie scheitern werden! Was die Geopolitik und die internationalen Abkommen an Auswirkungen auf die Bewegung haben werden ist nicht vorhersehbar. Wir wissen, dass die westlichen Strategen und Staaten aus seit Jahrhunderten bestehenden Gründen, keine progressive demokratische Regierung in der Region wollen. Egal ob im Iran oder sonstwo würde es für sie einem Selbstmord gleichkommen, wenn sie die Entstehung von Regierungen durch den Willen des Volkes und dem kollektiven Aufstand zulassen würden. Den westlichen Staaten geht es darum: sie wollen das Subjekt sein und nicht, dass es das Volk ist.
Über Russland und China kann man nichts sagen außer Empörung über ihre unverschämten und archaischen Methoden. Sie stehen weder zum Volk noch zum Staat im Iran, und beteiligen sich an jeder Niederträchtigkeit im Namen des Nationalinteresses. Über diese Bewertung sind sich Bewegung und Opposition einig.
Mit dieser Perspektive kommt die Frage des Aufstandes wieder auf die Tagesordnung. Wir haben keinen Weg außer am Ende zu siegen, weil der Status quo so nicht weiter gehen kann. Es sind schon viele Karten gespielt worden und wichtiger noch die jetzige Bewegung hat ihren ersten Sieg in dieser Phase erreicht: eine soziale Transformation. Weitere Siege werden folgen.
Es ist richtig dass die Zukunft nicht vorhersehbar ist. Bürgerkrieg, Zerfall, Militär Interventionen und dutzende andere Szenarien… aber in all denen ist das Einzig für uns akzeptable der Kampf um die demokratische Zukunft. Es ist die einzige menschliche Alternative für die es wert ist zu kämpfen und so viele Opfer zu geben. In den letzten 150 Jahren hatten wir entscheidende Momente in unserer Geschichte. Die konstitutionelle Revolution, die Nationalbewegung (Mossadegh) usw… Heute wo unser Bewusstsein stärker ist werden wir nicht locker lassen. „Frau, Leben, Freiheit“ ist ein glänzendes Blatt, aber wir haben noch einen langen Weg vor uns!