Ein vermeidbares Massaker
Warum sind in Italien in der Corona-Krise so viele Menschen gestorben?
https://www.wildcat-www.de/wildcat/105/w105_italien.html
In Italien stellte man erst am 21. Februar im Krankenhaus von Codogno die erste Infektion an einem italienischen Staatsbürger fest – aber schon Ende des Monats war das Land zum Zentrum der weltweiten Pandemie geworden. Am 7. März gab es bereits 5000 positiv Getestete und 233 Tote.
Am 9. März wurden Kneipen, Fitness-Studios usw. geschlossen und der Einkauf in Supermärkten geregelt; zudem verhängte die Regierung über die ganze Lombardei, fünf Provinzen im Piemont und der Emilia, drei in Venetien und über einen Teil der Marken eine Ausgangssperre (»orangefarbene Zone«) – aber die Produktion lief weiter. Die Woche zwischen dem 27. März und dem 3. April war dann die schlimmste: am 27. März starben 919 Menschen an einem einzigen Tag, am 3. April waren 4000 Menschen wegen Corona auf der Intensivstation. Im Vergleich dazu hatte es bis zum 27. März in der BRD insgesamt 274 Tote gegeben.
Wir wollten wissen, wie sich diese sehr unterschiedlichen Entwicklungen erklären und begannen in dieser Woche eine »bi-nationale Untersuchung«; die ersten Ergebnisse haben wir am 7. April auf einer italienischen Mailingliste verschickt. Niemand von uns ist Seuchenexperte, und so haben wir uns anfangs mit allem beschäftigt, was wir finden konnten: der Altersstruktur, dem Problem der multiresistenten Keime, den intensiveren Kontakten zwischen den Generationen, der Luftverschmutzung… ganz offensichtlich alles Probleme, die reinspielen – doch dann sind wir auf die kriminellen Machenschaften zwischen Unternehmern und Politikern gestoßen und darauf, dass dieselben Fabrikanten, die auf Teufel komm raus ihre Produktion aufrechterhalten haben, auch Privatkliniken und Altersheime betreiben…
Vorweg zu den Zahlen
Selten war die Mathematik so deutlich als Meinungswissenschaft im Dienst der Herrschenden zu erkennen wie in den letzten Wochen. Wir müssen sämtliche Zahlen hinterfragen. Nicht einmal die Zahl der Toten ist ein »Fakt«, denn in Italien wird anders gezählt als in der BRD, und sogar die Todeszahlen der Krankenhäuser in München und Hamburg unterscheiden sich von den Zahlen, die sie dem Robert-Koch-Institut (RKI) melden.
Die Gesundheitsstiftung Gimbe aus Bologna kam in einer Untersuchung zum Schluss, dass die Zahl der Infizierten etwa das Dreifache der offiziellen Zahlen ausmacht; schon deswegen, weil in Italien zu Beginn lächerlich wenige Tests gemacht wurden. Der Datenanalytiker Matteo Villa hat ausgerechnet, dass in Italien zwischen 1,6 und 1,8 Millionen Menschen infiziert sind, in der Lombardei etwa acht Prozent der Bevölkerung. Die Berufsgenossenschaft der Ärzte von Bergamo geht für ihre Provinz von ähnlichen Zahlen aus. Die italienische Statistikbehörde ISTAT hat die Todeszahlen in den ersten Märzwochen 2020 mit denen der vorhergehenden Jahre verglichen und kam auf 4000 zusätzliche Tote in Bergamo – während die offiziellen Zahlen für diese Wochen von 2000 Corona-Toten sprechen. Laut einer Untersuchung der Zeitung Eco di Bergamo könnten in diesem Zeitraum in Bergamo bis zu 4600 Menschen an Corona gestorben sein. Die reale Todeszahl wird wohl zwei- bis dreimal so hoch wie die aktuell angegebenen offiziellen Zahlen sein – genau wissen werden wir das aber erst in ein paar Monaten.
Aber trotz dieser Schwierigkeiten mit den Zahlen: es gibt jedenfalls große Unterschiede in der Letalität (Todesrate der Infizierten) zwischen Italien und der BRD. Italien 13,30 Prozent (181288 Infizierte und 24114 Tote), Spanien 10,41 Prozent, BRD 3,18 Prozent (die Zahlen sind jeweils vom 20. April). Wenn wir einzelne Regionen in Italien angucken, ändert sich das Bild: Lombardei 18,48 Prozent, Emilia Romagna 11,28 Prozent, Piemont 10 Prozent, Venetien 6,89 Prozent. Das müssen wir im Kopf behalten, wenn wir von »Italien« reden.
Von den offiziellen Zahlen her ist die Anzahl der positiv Getesteten in Italien nicht außergewöhnlich hoch. Pro 100 000 EinwohnerInnen hatten wir am 5. April 270 positiv Getestete in Spanien, 240 in der Schweiz, 206 in Italien und 116 in der BRD. Und im Vergleich zu Spanien liegt auch die Zahl der Toten in Italien relativ sogar etwas niedriger. Aber im Vergleich zur BRD ist die Zahl der Toten dermaßen viel höher, dass sich das nicht mit anderen Zählweisen erklären lässt.
Multiresistente Keime
Italien hat die höchste Todesrate durch multiresistente Keime in Europa, geschätzt sterben daran jährlich 10 000 Menschen in Italien von insgesamt 33 000 in ganz Europa.
Das liegt zum Teil an Hygieneproblemen in medizinischen Einrichtungen, hängt aber auch stark mit einem übermäßigen Gebrauch von Breitband-Antibiotika zusammen. Wenn du einerseits auf Arbeit starken Druck hast, keinen Krankenschein zu machen, andererseits wenig Zugang zu einem Hausarzt und drittens in der Apotheke sehr leicht Antibiotika kriegen kannst, dann pfeifst du halt so was ein. Und wenn es gewirkt hat, dann nimmst du eventuell den Rest der Packung, wenn du mal wieder so eine ähnliche Krankheit hast… Und nicht zu vergessen: in den am schlimmsten betroffenen Gegenden Norditaliens gibt es gewaltige industrielle Viehzucht (Schweine und Rinder), in der ebenfalls exzessiv Antibiotika eingesetzt werden!
In Italien existieren deutlich mehr Antibiotikaresistenzen. Im Zusammenhang mit COVID-19 (was eine Virus-Erkrankung ist) kann dies sehr gefährlich werden, weil sich oft über die virale Erkrankung eine bakterielle Infektion legt – und diese Infektionen auf Grund der hohen Resistenzen der Bakterien in Italien schwer behandelbar sind.
Das Virus war in Norditalien zu lange
unerkannt unterwegs
Wir haben keine Belege gefunden, halten es aber für sehr wahrscheinlich, dass das Virus bereits im Dezember in Italien unterwegs war. Der erste bekannte Patient wurde am 17. November in Wuhan festgestellt. Italien hat sehr intensive Verbindungen mit China. Nach Nationalitäten aufgeschlüsselt sind ChinesInnen die drittstärkste Immigrantengruppe in Venetien, Zehntausende ItalienerInnen arbeiten in China. Es gibt einen großen Touristenstrom aus China nach Norditalien (Venedig und Mailand), aber auch sehr viele italienische Tourist-Innen in China. Es wäre sehr unwahrscheinlich, sollte sich das Virus nicht in diesen Strömen – z.B. durch Infizierte ohne Symptome – bereits sehr viel früher als dem 21. Februar verbreitet haben. Als Italien die Direktflüge nach und von China einstellte, war es jedenfalls zu spät (noch dazu wurde dieses Verbot massenhaft umgangen!).
Hausärzte in der Gegend von Bergamo berichten jedenfalls, dass sie Ende Dezember viele Fälle einer anormalen Lungenentzündung behandelt haben von Leuten um die 40. Andere sagen, wenn das Corona-Fälle gewesen wären, hätte man bereits im Januar mehr Fälle finden müssen.
Eine Rolle bei der Ausbreitung des Virus soll auch die Champions-League-Partie zwischen Atalanta Bergamo und Valencia am 19. Februar gespielt haben. Sie wurde im San-Siro-Stadion in Mailand ausgetragen, 44 000 Fans aus Bergamo und Valencia feierten zusammen. Danach wurde ein Drittel der Mannschaft von Valencia und ihr Umfeld positiv getestet. Ein Sportjournalist, der vom Spiel berichtet hatte, war in Spanien »Patient Null«. Im Nachhinein haben Ärzte das Match eine »biologische Bombe« genannt, in Italien spricht man vom »Spiel Null« – aber es erklärt höchstens einen kleinen Teil dessen, was in Italien passiert ist.
Die dezentrale Fabrik
Mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Norditalien pendelt täglich zwischen zwölf und 40 Kilometer. Und da sie das alle zur gleichen Zeit tun müssen, sind anderthalb bis zwei Stunden täglicher Arbeitsweg die Regel. Seit den 1970er Jahren hat sich die Pendlerei mit der Dezentralisierung der Produktion und den immer weiter in der Landschaft verstreuten Wohngebieten stark ausgeweitet. Sowohl ArbeiterInnen wie Angestellte haben einen immer weiteren Weg zur Arbeit.
Der maßlose Bodenverbrauch hat zu einer beklemmend großflächigen Versiegelung vor allem in Venetien und der Lombardei geführt. Dazu kommt ein ungeheurer Anteil von Privat-PKWs; mit öffentlichen Verkehrsmitteln kommt man nur ins Zentrum der Provinzhauptstadt, wo die Verwaltungsgebäude und die Gymnasien sind – alles andere wird mit dem eigenen Kraftfahrzeug erledigt. Man fährt mit dem Auto zur Arbeit, isst zu Mittag in überfüllten Lokalen, kauft auf dem Weg Essen ein, bringt die Kinder zur Schule, holt sie dort wieder ab, Vesperpause nach der Arbeit, vermischt mit Geschäftstätigkeiten der Selbständigen und Handwerker… all das hat sicherlich zur Verbreitung des Virus beigetragen. Bars und Restaurants wurden erst am 12. März geschlossen. Aber auch nach Verhängung der Ausgangssperre reduzierte sich der Verkehr kaum. Als in der BRD Kontaktsperren verhängt und die Leute in Kurzarbeit geschickt wurden, ging der Verkehr deutlich zurück.
Die Produktionsstruktur, die sich auf kleine und mittlere Betriebe gründet, die sogenannte fabbrica diffusa, hat am meisten zur Befeuerung der Epidemie beigetragen. Das lässt sich auch daran sehen, dass im Süden nur die Marken betroffen sind – eben auch eine Region mit sehr vielen kleinen Betrieben. Genauso gilt das für die hohe Zahl an Infizierten in den Provinzen Rimini (grenzt an die Emilia Romagna) und Pesaro-Urbino (grenzt an die Marken) entlang der Adria.
Hiermit hängt eine andere Hypothese zusammen, die sich auf eine Untersuchung des LKW-Verkehrs stützt. Von der südlichen Lombardei aus, direkt nebenEmilia und dem Piemont, werden Waren in alle Richtungen transportiert. In Provinzen wie Piacenza, Cremona, Lodi und Pavia gibt es viele Transport-Hubs, darunter auch die Lager von Amazon, und eine sehr hohe Anzahl Infizierter. Die Merkmale des italienischen Logistiksektors (viel Handarbeit, ein hoher Anteil von Immigranten, darunter viele Illegale) lassen es pausibel erscheinen, dass entlang der LKW-Routen auch eine Übertragung von Mensch zu Mensch erfolgt ist.
Luftverschmutzung
Mit der Produktionsstruktur eng verknüpft ist die Luftverschmutzung. Auch die chinesischen Städte, wo das Virus offensichtlich herkam, sind für ihre hohe Luftverschmutzung bekannt, und man weiß um den Zusammenhang zu Erkältungskrankheiten – so spricht man zum Beispiel vom »Pekinghusten«. Die Po-Ebene wird diesbezüglich oft mit China verglichen, denn nirgendwo in Europa gibt es so viele Tote aufgrund der Luftverschmutzung wie hier. Die Po-Ebene hat mit die höchsten Stickstoffkonzentrationen in ganz Europa, Stickstoffdioxid schädigt die Atemwege und folglich auch das Herz-Kreislauf-System. Die Situation in Venetien ist schlimmer als in Paris oder London! Und sie war vor 15 Jahren noch sehr viel schlimmer – die Folgen davon sehen wir jetzt.
Wenn wir zwei Karten übereinanderlegen, wo in die eine die Orte eingetragen sind, wo in der Po-Ebene zwischen dem 10. und dem 29. Februar die gesetzlichen Grenzwerte von Feinstaub überschritten wurden, und in die zweite Karte die bis zum 3. März registrierten Infizierten – so haben wir zwei praktisch identische Karten. Das lässt sich noch nicht vollständig erklären, hängt aber höchstwahrscheinlich damit zusammen, dass Feinstaub das Virus transportieren kann.
Zur Luftverschmutzung in der Po-Ebene kommt die Verschmutzung von Böden und Gewässern hinzu (industrielle Produktion von Schweinen und Rindern besonders in der Lombardei und der Emilia!). All das beeinträchtigt die Gesundheit der BewohnerInnen, vor allem ihre Atemwege. Schon vor Jahrzehnten sprach man mit schwarzem Humor davon, dass in der Po-Ebene die menschliche Lunge dafür da ist, die Luft zu reinigen.
Die italienische Familie
In den letzten Jahrzehnten hat die Familie in Italien nach und nach wieder Funktionen des Sozialstaats übernommen. Eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit und starke Einschnitte bei den Sozialleistungen (während die Alten immer noch relativ hohe Renten haben) hat zum Wiederaufleben der Mehrgenerationenfamilie geführt. Immer öfter sind die Großeltern für die Zubereitung des Essens zuständig oder sie müssen sich um die Enkel kümmern, während die Eltern arbeiten – oder krank sind. Diese weitverbreitete Situation wurde durch die Ausgangssperre jäh unterbrochen – die aber zu spät kam, um die Ansteckung der Älteren zu verhindern.
Alter und »Vorerkrankungen«
Das Durchschnittsalter der Bevölkerung ist in Italien und der BRD etwa gleich; es sind die europäischen Länder mit dem höchsten Anteil von Menschen über 65. Warum waren dann im März die positiv Getesteten in Italien im Durchschnitt 18 Jahre älter als die in Deutschland (63 Jahre im Vergleich zu 48)? Hier spielen wohl die vielen Ski-Urlauber eine Rolle, die sich in Ischgl angesteckt haben. Aber sie waren relativ jung und fit – und haben sich relativ schnell von der Krankheit erholt; in Italien hätten sie ihre Eltern angesteckt! In beiden Ländern sterben jedenfalls die über 80jährigen überproportional häufig an COVID-19.
Oft wird gesagt, 99 Prozent der Toten hatten Vorerkrankungen. Aber »eine Person mit Vorerkrankungen« ist oft nur ein anderer Ausdruck für »älterer Arbeiter / Proletarier«. Nur eine Zahl: ein Mann mittleren Alters »mit geringer Qualifikation« hat ein achtmal höheres Risiko, aufgrund einer Herz-Kreislauf-Erkrankung in Frührente zu gehen, als ein Mann desselben Alters »mit hoher beruflicher Qualifikation«. Das Virus schlägt sehr selektiv zu, was man auch in den USA sieht, wo Schwarze eine siebenmal höhere Wahrscheinlichkeit haben, an COVID-19 zu sterben als Weiße. Auch hier ist es eine Kombination aus sozialer Ungleichheit (sprich »Vorerkrankungen« aufgrund von Armut, gesundheitsschädlicher Arbeit, fehlender Krankenversicherung) und dann noch dem Zwang, auch krank weiterhin arbeiten zu gehen! Das gleiche in Großbritannien, wo nicht-weiße Immigranten viel stärker von dem Virus betroffen sind. (Siehe auch den Brief aus China: für die Reichen hieß »Corona«, dass sie freie Straßen hatten, wo sie mit ihren SUVs mal endlich richtig brettern konnten!1 Oder Frankreich, wo die Reichen in ihre Chalets auf dem Land gegangen sind, während die Leute in den Banlieues zusammengepfercht werden.)
Laut ISTAT nehmen jährlich etwa vier Millionen ItalienerInnen aus finanziellen Gründen keine Vorsorgeuntersuchung oder ärztliche Behandlung in Anspruch. Somit wird es viele nicht erkannte »Vorerkrankungen« geben.
Demontage des Gesundheitswesens
In den 90er Jahren begann im Zusammenhang mit den Maastricht-Kriterien die Deregulierung und Privatisierung des italienischen Gesundheitssystems. Ende der 90er leitete die »Mitte-Links«-Regierung von Romano Prodi zudem die Regionalisierung ein. Durch Privatisierung und Regionalisierung entscheidet dein Einkommen und die regionale Wirtschaftskraft über den Zugang zum Gesundheitswesen. Das der Lombardei gilt deswegen als eines der besten – hier wurde aber auch die Privatisierung am weitesten vorangetrieben. Die Hälfte aller Krankenhausbetten steht in Privatkliniken; und diese haben sich auf elektive Operationen und Reha konzentriert und sind nicht für Notfälle gerüstet.
Die Gesundheitsausgaben in der BRD machten in den letzten Jahren etwa elf Prozent vom Bruttoinlandsprodukt aus, in Italien etwa neun Prozent.2 Das Problem ist aber, dass das italienische BIP nicht mehr gewachsen ist!
2019 hatte Italien ein Gesundheitsbudget von 118 Milliarden Euro, acht mehr als 2009. Diese Gelder werden einigermaßen gleich zwischen den 20 Regionen verteilt. (Kalabrien erhält 3,3 Milliarden, Sizilien 9,3 Milliarden Euro jährlich.) Aber die reale Situation vor Ort ist keineswegs gleich! Es kommt darauf an, was man mit den Geldern macht. Angesichts der Inflation (im Gesundheitswesen) sind acht Milliarden Zuwachs nicht viel, und das meiste Geld ging in neue Großkrankenhäuser, oft mit Public Private Partnership finanziert, und an die privaten Kliniken. Viele kleine Krankenhäuser wurden zugemacht, die Personalkosten sind seit der Krise 2008 nicht mehr gestiegen, seit zehn Jahren gab es einen Einstellungsstopp (das Durchschnittsalter des Pflegepersonals ist mit über 50 Jahren entsprechend hoch), die Ausgaben für Pharmaka wurden in dem Zeitraum sogar um ein Drittel gesenkt.
All das ist einigermaßen bekannt. Während aber alle auf die große Differenz zwischen den Intensivbetten starrten (5100 in Italien, 28 000 in der BRD), ging eine andere Tatsache beinahe unter: Das Gesundheitswesen in der Fläche wurde demontiert. In der Lombardei werden seit Jahren die Hausärzte systematisch abgebaut und haben seit fünf Jahren praktisch keine medizinische Funktion mehr (sie stellen lediglich Rezepte aus oder überweisen dich zum Facharzt oder ins Krankenhaus). Die Lombardei hat am stärksten in diese Richtung gepusht. Es gibt den berühmten Satz, den Giancarlo Giorgetti, ein enger Vertrauter von Salvini, im August 2019 während einer Pressekonferenz sagte: »In den nächsten Jahren werden wir weitere 45 000 Hausärzte abschaffen – aber wer geht denn noch zum Hausarzt?« Giorgetti war damals Staatssekretär in der Regierung Conte-Salvini.
Vor diesem Hintergrund hat die Epidemie zwischen Ende Februar und Anfang März die Krankenhäuser in der Lombardei regelrecht überrollt. In den Provinzen Bergamo und Brescia hat sie sich explosionsartig entwickelt, weil der Flughafen Orio al Serio dort liegt und weil auf Druck der Unternehmer keine Quarantäne verhängt wurde. Darauf werden wir gleich näher eingehen. Zunächst müssen aber noch einige andere Punkte erwähnt werden.
Die Notaufnahmen
Aufgrund der wenigen Hausärzte müssen viele Leute bei Beschwerden direkt in die Notaufnahmen der Krankenhäuser gehen, wo sich bis zu 100 Personen (Kranke und Angehörige) stundenlang in einem Raum drängen und warten, bis sie drankommen. In einigen Gegenden ist die Alternative, in eine Praxisgemeinschaft zu gehen, wo sich mehrere Ärzte Arzthelferinnen und Wartezimmer teilen, in denen sich auch Menschenmassen drängen. Hier finden wir im Übrigen eine erste Erklärung für die unterschiedlichen Zahlen in den Regionen der Po-Ebene (Venetien 6, Piemont 10, Lombardei 18,48 Prozent Letalität): die Region, die am systematischsten das Hausarzt-System abgeschafft hat, ist die Lombardei!
Massaker unter dem Gesundheitspersonal
In Italien wurden zu Beginn sehr wenige Tests durchgeführt, dazu fehlten Testkits und Strukturen in der Fläche. Alle Patienten wurden entweder ins Krankenhaus geschickt – oder zuhause zum Sterben isoliert. Somit waren die Krankenhäuser sehr schnell am Anschlag und ihnen fehlte in einem erschreckenden Ausmaß Schutzausrüstung. Bis heute müssen die Leute dort oft ohne ausreichenden Schutz arbeiten, denn zum Mangel kommt eine unglaublich komplizierte zentralisierte Bürokratie, die für die Versorgung der Krankenhäuser zuständig ist. Und natürlich machen sich hier auch die Kürzungen der letzten Jahre bemerkbar. Die Beschäftigten in den Krankenhäusern und mehr noch in den Altersheimen werden auf die Schlachtbank geschickt: wenig Schutzausrüstung und teilweise Zwölfstundenschichten; denn sie müssen ja auch noch ihre erkrankten oder in Quarantäne befindlichen KollegInnen ersetzen, die nur teilweise durch außerordentliche Neueinstellungen ausgeglichen wurden – und auch das erst, nachdem sich die Seuche einen Monat lang ausbreiten konnte.
Somit werden gerade die Krankenhausbeschäftigten, die Hausärzte, die AltenpflegerInnen und die Rettungswagenfahrer am meisten von der Seuche angesteckt. Sie machen zehn Prozent aller Infizierten (d. h. positiv Getesteten) aus, das heißt mehr als 17 000 Personen. Bis jetzt sind bereits 130 Ärzte, 30 Schwestern und Dutzende von Rettungswagenfahrern an der Krankheit gestorben (Daten vom 20. April). In der BRD machen die Beschäftigten im Gesundheitswesen fünf Prozent aller Infizierten aus. In Italien wurde das Krankenhauspersonal selbst zur schlimmsten Ansteckungsquelle. Zwei Krankenschwestern haben sich offensichtlich deshalb umgebracht.
Es wurde viel über den Mangel an Intensivbetten berichtet (die inzwischen auf etwa 8000 aufgestockt wurden). Aber in Italien wurden 14 Prozent der positiv Getesteten in die Intensivstation gebracht! In den überfüllten Krankenhäusern von Bergamo (wie in New York und Rosenheim) überlebte nur die Hälfte der Patienten länger als fünf Tage die invasive Beatmung.
Hat nicht vielleicht der strategische Mangel an Intensivbetten auch als Alibi für alle gedient, als Beweis dafür, das Unmögliche versucht zu haben, »mehr konnten wir nicht tun«? Viele Menschen sind unter künstlicher Beatmung gestorben; nun beginnt man zu verstehen, dass viele keine Lungenentzündung hatten, sondern andere Probleme mit der Lunge plus Gefäßentzündungen; in diesem Fall bringt die zwangsweise Sauerstoffzufuhr gar nichts. War die Intubation manchmal auch ein Versuch der Beschäftigten, sich selbst zu schützen?
Eine Seuche bekämpft man nicht im Krankenhaus,
sondern im Territorium.
Gegen die Seuche muss man in der Fläche kämpfen. Dazu gehört vor allem das verantwortliche Verhalten der Leute und strikte Hygienemaßnahmen. Zweitens muss man durch systematische Tests die Infizierten ohne Symptome suchen (sie machen etwa 50 Prozent aller Fälle aus).3 Auch die Kontaktpersonen von Infizierten müssen getestet werden. Allen Infizierten muss man helfen. In Padua wurde zum Beispiel eine Art Telefonzentrale mit 20 Leuten besetzt, die jede zuhause isolierte Person zweimal am Tag anrufen und Hilfe anbieten. Das ist grundlegend, um die Kliniken zu entlasten.
Bis zum 23. April wurden in Italien 1,58 Millionen Tests durchgeführt und eine Million Menschen getestet (zuletzt täglich mehr als 66 000). In der BRD wurden bisher etwa doppelt so viele Menschen getestet (die Zahl der Tests werden hier nicht zentral erfasst). Tests sind sehr wichtig – vor allem auch, um das Personal in den Krankenhäusern zu schützen, die sich sonst an den symptomlosen Patienten anstecken, die wegen anderer Probleme ins Krankenhaus kommen. Aber bei der Fehleranfälligkeit der Tests sind sie wohl ähnlich wie die Intensivbetten letztlich nur die Hoffnung auf eine technologische Lösung der Epidemie. In Wirklichkeit sind Kapazitäten und die »tiefe Staffelung im Territorium« entscheidend. Eine zentrale Rolle spielen die Hausärzte; sie müssen Menschen mit leichten Symptomen telefonisch betreuen, zuhause aufsuchen oder bei sich in der Praxis behandeln (aber dafür brauchen sie Schutzvorrichtungen!). Denn wenn sich die Symptome verschlimmern, müssen die Leute sofort ins Krankenhaus gebracht werden, sonst kommen sie dort in einem viel zu schlimmen Zustand an.
Alzano Lombardo und Nembro: Seuchenherde
Am 21. Februar wurden Codogno (Lombardei) und Vò Euganeo (Venetien) zu »roten Zonen« erklärt, d. h. die Orte wurden abgeriegelt. Am 8. März wurden diese Maßnahmen aufgehoben; in Codogno, weil es nun zur orangefarbenen Zone der ganzen Lombardei gehörte; in Vò, weil die Sache nun vorbei war. Codogno ist mit 16 000 EinwohnerInnen ein großes Zentrum der Schweine- und Rinderzucht, Vò ist ein Bauerndorf mit 3300 EinwohnerInnen, in den umliegenden Hügeln gibt es Weinbau und viele Ausflugslokale. Nach zwei Wochen Isolation war die Seuche in beiden Orten unter Kontrolle.
Ganz anders in den beiden lombardischen Orten Nembro (11 500 EinwohnerInnen) und Alzano (13 600). Obwohl beide zu großen Seuchenherden geworden waren, hat die Regierung sie in ihrem Erlass vom 8. März nicht zu roten Zonen erklärt, obwohl bereits alles dafür vorbereitet war und sich das Italienische Gesundheitsinstitut wegen der über 100 infizierten Personen – doppelt so viele wie in Bergamo – dafür ausgesprochen hatte.
Sie fielen nun in die orangefarbene Zone, die über die gesamte Lombardei und die angrenzenden Provinzen verhängt wurde. Unmittelbar nach Veröffentlichung des Regierungserlasses verfügte der Regionalpräsident mit einem Erlass keine besonderen Maßnahmen für Alzano und Nembro, sondern gab explizit die Erlaubnis, Infizierte mit weniger schwerem Krankheitsverlauf aus den Krankenhäusern in Altersheime zu verlegen. Damit hat er die Ausbreitung der Seuche begünstigt und zu vielen Toten beigetragen (in den beiden Kommunen sterben zehnmal so viele Menschen wie im Vorjahreszeitraum).
»Bergamo läuft!«
Die beiden Gemeinden liegen wenige Kilometer von Bergamo entfernt, am Eingang zum Seriana-Tal, einem historischen Standort von Textilindustrie; heute sind die meisten Betriebe italo-chinesische Joint Ventures. Chinesische Techniker und Subunternehmer reisen ständig zwischen China und Bergamo hin und her und benutzen dazu den Flughafen Orio al Serio – einige von ihnen sind sogar Wochenpendler. Wahrscheinlich kam das Virus über diesen Verkehr im Dezember oder Januar nach Italien. Als die italienische Regierung Direktflüge nach China verbot, organisierten die Firmen Umsteigeflüge über Moskau oder Bangkok – die Leute kamen ohne jede Kontrolle und ohne registriert zu werden, ins Land. »Alle wussten das!«, sagt Francesco Macario, der zuständige Gewerkschafter der CGIL.
In diesem Gebiet, in dem Werkhalle an Werkhalle steht, darunter Unternehmen mit Milliardenumsätzen wie Tenaris, ABB, Dalmine, Persico (Persico hat noch Mitte Februar die insolvente Bielomatik in Neuffen übernommen), arbeiten mehr als 40 000 Menschen in 376 Betrieben mit 120 bis zu 800 Beschäftigten. Der lokale Unternehmerverband hat unermüdlich die Fortsetzung der Produktion befürwortet – natürlich unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen. Am 28. Februar lancierte der Industriellenverband Confindustria einen Werbespot »Bergamo non si ferma« (»Bergamo läuft!«) – dafür haben sie sich erst fünf Wochen später entschuldigt: am 6. April, als in Bergamo bereits 2480 Menschen gestorben waren. Am 23. April waren in der Provinz Bergamo 10 946 Personen infiziert und 2892 verstorben.
In der Lombardei – und vor allem in der Provinz von Bergamo – haben sich die Unternehmer mithilfe durchgeknallter Regionalpolitiker (PD-Bürgermeister von Bergamo) in dem Moment durchgesetzt, in dem sich das Virus am stärksten verbreitete. Sie haben die Betriebe um jeden Preis offengehalten. Eine der größten Metallfabriken konnte ihren Arbeitern keine Masken und andere Schutzausrüstung anbieten – sie gaben ihnen aber Glasreiniger, um sich die Hände zu desinfizieren!
Erst am 22. März – nach einer 18stündigen Videokonferenz zwischen Unternehmern, Staat und Gewerkschaften – wurde beschlossen, die »nicht-lebensnotwendige« Produktion herunterzufahren. Am selben Tag jedoch zogen die Unternehmen einen Teil des Kompromisses zurück. Erst jetzt riefen die Gewerkschaften für den 25. März zum Streik auf.
Unterm Strich ist es dem Unternehmerverband gelungen, die Produktion fast bis Ende März aufrechtzuerhalten. Der Handyüberwachung zufolge waren noch am 24. März – trotz Schulschließungen und Home-Office – mehr als 60 Prozent der Menschen unterwegs. Erst mit dem Streik am 25. März und einer strikteren Bestimmung von »lebensnotwendig« ging die Bewegung um 40 Prozent zurück. Die Fortsetzung der Produktion hat direkt Menschen umgebracht.
Laut einer Untersuchung der italienischen Rentenversicherung INPS von Ende April haben sich in Provinzen, in denen besonders viel »lebensnotwendige Produktion« konzentriert ist (wie z.B. in Cremona) nach dem 22. März täglich über 25 Prozent mehr Menschen angesteckt als dort, wo es wenig davon gibt.4
Richtig kriminell war es in Alzano Lombardo und Nembro. Außer dem besonderen Druck der Industriellen gab es ein Desaster im Krankenhaus von Alzano. Als die ersten Patienten positiv getestet wurden, verlegte man sie ins zentrale Covid-Krankenhaus, arbeitete aber einfach weiter und verbreitete das Virus. Weil der Ort nicht abgeriegelt worden war, konnte sich die Seuche ausbreiten, auch deshalb sind viele gestorben. Nembro war im März die Gemeinde in Italien mit der höchsten Zahl von Todesfällen durch COVID-19 pro Einwohner, mit 123 Menschen starben hier 750 Prozent mehr als im Vorjahresmonat. In Nembro ist auch der Sitz des Unternehmens Persico, dessen Eigentümer einer derjenigen war, die sich am meisten gegen die Ausrufung der roten Zone wehrten. Im benachbarten Alzano starben im März 101 Menschen (im März 2019 waren es 9).
Codogno und Vò wurden isoliert, hier konnte die Ausbreitung der Seuche gestoppt werden; die industrielle Peripherie von Bergamo wurde nicht isoliert und stürzte in eine Seuchendynamik, die das Gesundheitssystem der gesamten Provinz überrannte. Der ganze Verlauf zeigt, wie untragbar die »lombardischen Produktionsverhältnisse« sind.
Industrielle und die Privatisierung des Gesundheitswesens
Die Industriellen, die am Fortlaufen der Produktion interessiert waren, sind in einigen Fällen dieselben Personen, die in Privatkliniken investiert haben, wie die Brüder Rocca (die bereits zweimal den Titel »Dagobert Duck der Börse« erhalten haben; die spinnen, die Römer!). Als die öffentlichen Krankenhäuser überlastet waren, boten sie an, Tausende Corona-Infizierte dorthin und zu ihren Schwestergesellschaften zu bringen – selbstredend für eine angemessene »Entschädigung«. Die Lombardei hat mehr als alle anderen Regionen die Kommerzialisierung der Gesundheit durchgesetzt – und wird heute zum Opfer eines ausgeweiteten Korruptionssystems, das 18 Jahre lang (von 1995 bis 2013) von Roberto Formigoni gelenkt wurde, der zur Führungsclique von Comunione e Liberazione5 gehört. Er ist Mitglied in Berlusconis Partei, der ihn zum Präsidenten der Lombardei ernannte. Und er hatte immer die Unterstützung der Lega, die seit 2013 die Regionalregierung stellt. Einige Verfahren wegen Korruption (bei der Lieferung von Ausrüstung an Krankenhäuser und wegen Verklappung von Asbest) und weil er Vertreter von Comunione e Liberazione an alle möglichen Schaltstellen der Macht platziert hatte, führten zu einer Verurteilung zu fünf Jahren und zehn Monaten Knast – nach einigen Monaten wurde er in den Hausarrest entlassen, weil er über 70 ist. Sein Nachfolger Roberto Maroni von der Lega brachte 2017 eine weitere »Gesundheitsreform« auf den Weg, mit der er die öffentlichen Investitionen ins Gesundheitswesen noch stärker beschnitt und den Hausarzt durch den »Manager« ersetzte.
Es sind solche Leute, die die Krankenhäuser und die Altersheime leiten.
Alles beginnt im Trivulzio
Die Altersheime haben eine große Rolle bei der Verbreitung des Virus gespielt. Und das bereits durch ihre stattliche Anzahl in den beiden Regionen: 677 in der Lombardei und 521 im Veneto, das macht insgesamt ein Viertel aller Altersheime in Italien aus. Da die Lombardei mehr als doppelt so viele EinwohnerInnen hat, gibt es in Venetien somit relativ zur Bevölkerung die meisten Altersheime.
Als die Regionalregierung der Lombardei am 8. März die Verlegung der weniger kritischen Infizierten in Altersheime verfügte, die die Möglichkeit haben, Isolierstationen einzurichten, wurde die Organisierung der Verlegung dem traditionsreichen Mailänder Altersheim Pio Albergo Trivulzio übertragen. Das Trivulzio ist den Älteren noch bekannt, weil mit einem Haftbefehl im Februar 1992 gegen den damaligen Geschäftsführer die Aktion »Mani pulite« losging.6 Aus den Altersheimen, die sich bereit erklärt hatten, wählte das Trivulzio 15 aus, die teilweise überhaupt nicht die Voraussetzungen erfüllten – weil sie Personalmangel aufgrund von Corona-Infizierungen (!) oder keine Schutzvorrichtungen wie Masken und Isolierkittel hatten. Da es private Altersheime waren, hatte die Regierung ihnen 150 Euro pro Tag und Patient zugesagt. In einem späteren Erlass verfügte die Regionalregierung, dass Infizierte aus Altersheimen nur dann in auf Intensivstationen kommen, wenn sie unter 75 Jahre alt sind. Sie hatten aber die große Güte, die Verabreichung von entsprechenden Medikamenten zu veranlassen, damit die alten Leutchen wenigstens schmerzfrei sterben können.
Zu diesen speziellen Verwicklungen in der Lombardei ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft, nachdem mehrere Angehörige von Opfern und Beschäftigte der Altersheime selbst Strafanzeige gestellt haben. Wieder beginnen die Untersuchungen im Trivulzio. In der Lombardei sind von 5886 Bewohnern von Altersheimen zwischen dem 20. Februar und dem 10. April 1130 gestorben, das ist eine Todesrate von 19,2 Prozent. Im gleichen Zeitraum starben in der Provinz Pavia 341 AltenheimbewohnerInnen: in Vigevano 30 von 120, in Casselnovo 26 von 67, in Groppello 22 von 85.
Der Regionalpräsident der Lombardei erklärte am 16. April, die Techniker seien an der Ausbreitung der Seuche und an den Toten schuld, sie seien ungeschickt vorgegangen – und nicht er, der ausdrücklich veranlasst hatte, infizierte Patienten in Häuser zu verlegen, die von gebrechlichen und hilfsbedürftigen Menschen bewohnt werden!
In Venetien lag Mitte April die Mortalitätsrate in den Altersheimen bei 15,7 Prozent, etwa die Hälfte des nationalen Durchschnitts. Außerdem hatten sich fast 1000 Beschäftigte angesteckt, aufgrund unzureichender Schutzmaßnahmen. Trotzdem ist die Situation auch nicht annähernd vergleichbar mit der Lombardei.
Die Staatsanwaltschaften haben bis zur dritten Aprilwoche in 600 Fällen die Ermittlungen aufgenommen, ein Fünftel der untersuchten Altersheime waren vorschriftswidrig, 15 werden umgehend geschlossen.
Weitere polizeiliche Untersuchungen wegen vorsätzlicher Tötung sind in Gang, sowohl in Kliniken wie in Altersheimen. Klinikunterlagen wurden beschlagnahmt.
Angesichts der fehlenden Klarheit über die Gründe für die Verlegungen und die Ergebnisse der Intensivtherapie in der Lombardei sind die Überblickzahlen, die der Chef des Zivilschutzes bis zum 19. April allabendlich verkündete, zu bezweifeln.
Auch in der BRD ist es zur Kontaminierung von Krankenhäusern gekommen. Ein besonders krasser Fall ist die größte Klinik des Landes Brandenburg, das Ernst von Bergmann in Potsdam. Auch in Altersheimen gibt es schwere Fälle: in Wolfsburg sind in kurzer Zeit 22 BewohnerInnen gestorben, in Würzburg ebenfalls 22, alle waren über 80. In Altersheimen ist auch die Rate der angesteckten PflegerInnen aufgrund fehlender Schutzausrüstung und Tests viel höher. Erst in letzter Zeit hat man damit begonnen, innerhalb von Altersheimen Quarantänestationen einzurichten.
Ein anderes Problem in Deutschland sind die privaten PflegerInnen aus Osteuropa, besonders aus Polen, die sehr oft schwarz beschäftigt werden. Viele von ihnen können nicht mehr zur Arbeit kommen, weil die Grenzen geschlossen sind. Dies berührt ein anderes Problem: 80 Prozent des Gesundheitspersonals arbeitet in Ländern mit der Hälfte der Weltbevölkerung. In Deutschland machen allein die privaten PflegerInnen 300 000 aus.
Stand: 25. April 2020 English version
Fußnoten:
[1] Siehe Zuruf aus China: Kaufte China dem Westen Zeit?
[2] Die jährlichen Gesundheitsausgaben pro Kopf waren in der BRD 2019 knapp 6000Euro, in Italien 3428, in Spanien 3323 Euro. (In den USA mehr als 10 000, in China 688 Euro – die Summe sagt nicht unbedingt etwas über die Qualität.)
[3] Eine kürzlich in Science veröffentlichte Studie der Columbia-Universität kommt für Wuhan auf folgende Zahlen: 86 Prozent aller Infizierten wurden nicht erkannt. Diese nicht erkannten Fälle haben zu zwei Dritteln aller Ansteckungen geführt.
[4] Coronavirus, studio dell’Inps: “Nelle province con più occupati nei settori essenziali c’è stato ogni giorno un 25% di contagi in più”, il Fatto Quotidiano, 24.04.2020
[5] Comunione e Liberazione: (Gemeinschaft und Befreiung): einflussreiche antikommunistische rechte Bewegung innerhalb der katholischen Kirche mit eigener Wirtschaftsvereinigung (Compagnia delle Opere) und einem politischen Flügel in Berlusconis PdL
[6] Siehe die historische Vorbemerkung zu »tangentopoli« (Schmiergeld-Affäre) in unserem Artikel Italien: Die dritte Welle