Der Krieg und die Anarchist*innen: Anti-Autoritäre Perspektiven in der Ukraine
Dieser Text wurde von mehreren antiautoritären Aktivist*innen aus der Ukraine gemeinsam verfasst. Wir repräsentieren keine Organisation, aber sind zusammen kommen, um diesen Text zu schreiben und uns auf einen möglichen Krieg vorzubereiten.
Außer von uns wurde der Text von mehr als zehn Personen redigiert, darunter Teilnehmende an den im Text beschriebenen Ereignissen, Journalist*innen, die die Richtigkeit unserer Ausführungen überprüften und Anarchist*innen aus Russland, Belarus und Europa. Wir haben viele Korrekturen und Hinweise eingearbeitet und versucht den Text möglichst objektiv zu halten.
Wir wissen nicht ob die antiautoritäre Bewegung einen Krieg überleben wird, aber wir werden es versuchen. In der Zwischenzeit ist dieser Text ein Versuch, die Erfahrungen, die wir gesammelt haben, online zu stellen.
Zurzeit wird in der Welt über einen möglichen Krieg zwischen Russland und der Ukraine intensiv diskutiert. An dieser Stelle müssen wir klarstellen, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine bereits seit 2014 im Gange ist.
Aber alles der Reihe nach.
Die Maidan-Proteste in Kiew
Im Jahr 2013 kam es in der Ukraine zu Massenprotesten. Ausgelöst wurden sie als die Berkut (Spezialeinheiten der Polizei) protestierende Student*innen verprügelte, die gegen die Weigerung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, protestierten. Diese Auseinandersetzung war für große Teile der Gesellschaft eine Initialzündung. Allen wurde klar, dass Janukowitsch die Grenze überschritten hatte. Die Proteste führten schließlich dazu, dass der Präsident flüchtete.
In der Ukraine werden diese Ereignisse als »Revolution der Würde« bezeichnet. Die russische Regierung stellt sie als einen Nazi-Putsch, ein Projekt des US-Außenministeriums usw. dar. Die Demonstrant*innen selbst waren ein bunter Haufen: rechtsextreme Aktivist*innen mit ihren Symbolen, liberale Politiker*innen, die über europäische Werte und die europäische Integration sprachen, bürgerliche Ukrainer*innen, die gegen die Regierung auf die Straße gingen und ein paar Linke. Unter den Demonstrant*innen herrschten anti-oligarchische Einstellungen vor – während Oligarchen, die Janukowitsch nicht unterstützten, die Proteste finanzierten, weil er und sein enger Kreis während seiner Amtszeit versucht hatten, das Großkapital zu monopolisieren. Für andere Oligarchen stellte der Protest also eine Chance dar, ihre Unternehmen zu retten. Auch viele mittelständische und kleine Geschäftsleute nahmen an den Protesten teil, weil Janukowitschs Leute sie nicht frei arbeiten ließen und Geld von ihnen verlangten. Die breite Bevölkerung war unzufrieden mit dem hohen Maß an Korruption und der Willkür der Polizei. Die Nationalist*innen, die Janukowitsch mit der Begründung ablehnten, er sei ein pro-russischer Politiker, gewannen wieder deutlich an Einfluss. Belarussische und russische Exilant*innen schlossen sich den Protesten an, da sie Janukowitsch als Freund der belarussischen und russischen Diktatoren Alexander Lukaschenko und Wladimir Putin ansahen.
Wenn du Videos von der Maidan-Kundgebung gesehen hast, ist dir vielleicht aufgefallen, dass der Grad der Gewalt hoch war; die Demonstrant*innen hatten keinen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten, also mussten sie bis zum bitteren Ende kämpfen. Die Berkut umhüllte Blendgranaten mit Schraubenmuttern, die nach der Explosion Splitterwunden hinterließen und einigen Menschen ins Auge flogen; deshalb gab es viele Verletzte. In der Schlussphase des Konflikts setzten die Sicherheitskräfte militärische Waffen ein und töteten 106 Demonstrant*innen.
Als Reaktion darauf stellten die Demonstrant*innen selbstgebaute Granaten und Sprengstoffe her und brachten Schusswaffen auf den Maidan. Die Herstellung von Molotow-Cocktails wurde von kleinen Einheiten übernommen.
Bei den Maidan-Protesten 2014 setzten die Machthaber*innen Söldner*innen (Tituschkas) ein; gaben ihnen Waffen, koordinierten sie und versuchten, sie als organisierte loyale Kräfte einzusetzen. Es kam zu Kämpfen mit Knüppeln, Hämmern und Messern.
Entgegen der Darstellung, der Maidan-Protest sei eine »Manipulation durch die EU und die NATO«, hatten die Befürworter*innen der europäischen Integration zu einem friedlichen Protest aufgerufen und die militanten Demonstrant*innen als Handlanger*innen verspottet. Die EU und die Vereinigten Staaten kritisierten die Besetzung von Regierungsgebäuden. Selbstverständlich beteiligten sich ›pro-westliche‹ Kräfte und Organisationen an dem Protest, aber sie kontrollierten ihn nicht insgesamt. Verschiedene politische Kräfte, darunter die extreme Rechte, mischten sich aktiv in die Bewegung ein und versuchten ihre Agenda zu beeinflussen. Sie fanden sich schnell zurecht und wurden zu einer organisierenden Kraft, da sie die ersten Kampfgruppen aufstellten und alle einluden, sich ihnen anzuschließen – und sich von ihnen ausbilden und anleiten zu lassen.
Allerdings war keine der Kräfte absolut dominant. Der Grundtenor war, dass es sich um eine spontane Protestbewegung handelte, die sich gegen das korrupte und unpopuläre Janukowitsch-Regime richtete. Vielleicht kann der Maidan als eine der vielen »gestohlenen Revolutionen« eingestuft werden. Die Opfer und Anstrengungen Zehntausender gewöhnlicher Menschen wurden von einer Handvoll Politiker*innen zunichte gemacht, die sich ihren Weg zur Herrschaft und Kontrolle über die Wirtschaft bahnten.
Die Rolle der Anarchist*innen bei den Protesten 2014
Auch wenn Anarchist*innen in der Ukraine auf eine lange Geschichte zurückblicken können, wurden während der Herrschaft Stalins alle, die in irgendeiner Weise mit den Anarchist*innen in Verbindung standen, unterdrückt – die Bewegung starb aus, was zur Folge hatte, dass die Weitergabe revolutionärer Erfahrungen zum Erliegen kam. In den 1980er Jahren begann sich die Bewegung dank der Bemühungen von Historiker*innen zu erholen, und in den 2000er Jahren erhielt sie durch die Entwicklung von Subkulturen und Antifaschismus einen großen Auftrieb. Doch im Jahr 2014 war sie noch nicht bereit für ernsthafte historische Herausforderungen.
Vor dem Ausbruch der Proteste waren die Anarchist*innen als individuelle Aktivist*innen oder in kleinen Gruppen verstreut. Nur wenige waren der Meinung, dass die Bewegung organisiert und revolutionär sein sollte. Zu den bekannten Organisationen, die sich auf solche Ereignisse vorbereiteten, gehörte die ›Revolutionäre Konföderation der Anarcho-Syndikalisten von Makhno‹ (RKAS von Makhno), die sich jedoch zu Beginn der Unruhen selbst auflöste, da sie keine Strategie für die neue Situation entwickeln konnten.
Die Ereignisse auf dem Maidan waren vergleichbar mit einer Situation, in der du einer direkten Auseinandersetzung mit den Spezialeinheiten nicht mehr entkommen kannst und du gezwungen bist entschlossen zu handeln – dein Arsenal aber nur aus Punk-Texten, Veganismus, 100 Jahre alten Büchern und bestenfalls aus der Erfahrung der Teilnahme am antifaschistischen Widerstand auf der Straße und an lokalen sozialen Konflikten besteht. Folglich herrschte große Verwirrung, als die Leute versuchten zu verstehen, was vor sich ging.
Zu diesem Zeitpunkt war es nicht möglich, eine gemeinsame Perspektive auf die Situation zu entwickeln. Die Anwesenheit der Rechtsextremen auf den Straßen hielt viele Anarchist*innen davon ab, die Proteste zu unterstützen, da sie nicht neben den Nazis auf der gleichen Seite der Barrikaden stehen wollten. Dies brachte eine Menge Kontroversen in die Bewegung; einige Leute beschuldigten diejenigen, die sich entschlossen, sich den Protesten anzuschließen, des Faschismus.
Die Anarchist*innen, die an den Protesten teilnahmen, waren mit der Brutalität der Polizei und mit Janukowitsch selbst und seiner pro-russischen Haltung unzufrieden. Sie konnten jedoch keinen nennenswerten Einfluss auf die Proteste nehmen, da sie im Wesentlichen zu den Außenseiter*innen zählten.
Schließlich beteiligten sich die Anarchist*innen einzeln und in kleinen Gruppen an der Maidan-Revolution, hauptsächlich in nicht-militanten Initiativen und Hilfspositionen. Nach einer Weile beschlossen sie, zusammenzuarbeiten und ihre eigene ›Hundertschaft‹ (eine Kampfgruppe von 60-100 Personen) zu bilden. Doch bei der Registrierung der Einheit (ein obligatorisches Verfahren auf dem Maidan) wurden die zahlenmäßig unterlegenen Anarchist*innen von den rechtsextremen Teilnehmenden mit Waffen auseinander getrieben. Die Anarchist*innen blieben, versuchten aber nicht mehr, große organisierte Gruppen zu bilden.
Unter den auf dem Maidan Getöteten befand sich der Anarchist Sergei Kemsky, der ironischerweise postmortem zum Helden der Ukraine ernannt wurde. Er wurde in der heißen Phase der Konfrontation mit den Sicherheitskräften von einem Scharfschützen erschossen. Während der Proteste richtete Sergei einen Appell an die Demonstrant*innen mit dem Titel »Hörst du es, Maidan?«, in dem er mögliche Wege zur Entwicklung der Revolution skizzierte und dabei die Aspekte der direkten Demokratie und der sozialen Transformation hervorhob. Der Text ist hier auf Englisch. verfügbar.
Der Beginn des Krieges: Die Annexion der Krim
Der bewaffnete Konflikt mit Russland begann vor acht Jahren, in der Nacht vom 26. auf den 27. Februar 2014, als das Parlamentsgebäude und der Ministerrat der Krim von unbekannten bewaffneten Männern in ihre Gewalt gebracht wurden. Sie benutzten russische Waffen, Uniformen und Ausrüstung, trugen aber nicht die Symbole der russischen Armee. Putin hat die Beteiligung des russischen Militärs an dieser Operation damals bestritten, sie allerdings später persönlich in dem dokumentarischen Propagandafilm »Krim: Der Weg in die Heimat« zugegeben.
In diesem Zusammenhang muss mensch wissen, dass die ukrainische Armee zur Zeit Janukowitschs in einem sehr schlechten Zustand war. Die provisorische Regierung der Ukraine wusste, dass auf der Krim eine reguläre russische Armee mit 220.000 Soldat*innen operierte, und wagte es nicht, sich ihr entgegenzustellen.
Nach der Besetzung waren viele Bewohner*innen mit Repressionen konfrontiert, die bis zum heutigen Tag andauern. Auch unsere Genossinnen und Genossen gehören zu den Betroffen. Wir können kurz auf einige der bekanntesten Fälle eingehen. Der Anarchist Alexander Koltschenko wurde zusammen mit dem pro-demokratischen Aktivisten Oleg Sentsov verhaftet und am 16. Mai 2014 nach Russland überstellt; fünf Jahre später wurden sie im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freigelassen. Der Anarchist Alexei Shestakovich wurde gefoltert, mit einer Plastiktüte auf dem Kopf gewürgt, geschlagen und mit Vergeltungsmaßnahmen bedroht; ihm gelang die Flucht. Der Anarchist Evgeny Karakashev wurde 2018 wegen des Teilen eines Beitrages auf Vkontakte (einem sozialen Netzwerk) verhaftet; er befindet sich weiterhin in Haft.
Desinformation
In russischsprachigen Städten in der Nähe der russischen Grenze fanden pro-russische Kundgebungen statt. Die Teilnehmenden fürchteten die NATO, radikale Nationalist*innen und Repressionen gegen die russischsprachige Bevölkerung. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR gab es zwischen vielen Haushalten in der Ukraine, in Russland und in Belarus familiäre Bindungen, aber die Ereignisse auf dem Maidan führten zu einem schweren Bruch in den persönlichen Beziehungen. Diejenigen, die sich außerhalb Kiews aufhielten und das russische Fernsehen verfolgten, waren davon überzeugt, dass Kiew von einer Nazi-Junta eingenommen worden war und dass es dort ›Säuberungsaktionen‹ gegen die russischsprachige Bevölkerung gab.
Russland startete eine Propagandakampagne mit folgenden Botschaften: ›Bestrafer‹, d. h. Nazis, kommen von Kiew nach Donezk, sie wollen die russischsprachige Bevölkerung vernichten (obwohl Kiew auch eine überwiegend russischsprachige Stadt ist). In ihren Desinformationsmeldungen verwendeten die Propagandist*innen Fotos der extremen Rechten und verbreiteten alle Arten von Fake News. Während der Feindseligkeiten tauchte eine der gefährlichsten Falschmeldungen auf: die angebliche Kreuzigung eines dreijährigen Jungen, der angeblich an einen Panzer gebunden und über die Straße geschleift wurde. In Russland wurde diese Geschichte auf staatlichen Sendern ausgestrahlt und verbreitete sich im Internet.
Unserer Meinung nach spielte 2014 die Desinformation eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des bewaffneten Konflikts: Einige Einwohner*innen von Donezk und Lugansk hatten Angst, dass sie getötet werden könnten, und griffen deshalb zu den Waffen und riefen nach Putins Truppen.
Bewaffneter Konflikt im Osten der Ukraine
»Der Auslöser des Krieges« war – in seinen eigenen Worten – Igor Girkin, einem Oberst des FSB (Staatssicherheitsdienst, Nachfolger des KGB) der Russischen Föderation. Girkin, ein Anhänger des russischen Imperialismus, beschloss, die pro-russischen Proteste zu radikalisieren. Er überquerte mit einer bewaffneten Gruppe von Russen die Grenze und besetzte (am 12. April 2014) das Gebäude des Innenministeriums in Slawjansk, um Waffen in Besitz zu nehmen. Pro-russische Sicherheitskräfte begannen, sich Girkin anzuschließen. Als Informationen über Girkins bewaffnete Gruppen auftauchten, kündigte die Ukraine eine Anti-Terror-Operation an.
Ein Teil der ukrainischen Gesellschaft war entschlossen, die nationale Souveränität zu schützen. Dabei waren sie sich bewusst, dass die Armee nur über geringe Kapazitäten verfügte, und organisierte eine große Freiwilligenbewegung. Diejenigen, die in militärischen Angelegenheiten einigermaßen kompetent waren, wurden Ausbilder*innen oder bildeten Freiwilligenbataillone. Einige Menschen schlossen sich der regulären Armee und den Freiwilligenbataillonen als humanitäre Freiwillige an. Sie sammelten Geld für Waffen, Lebensmittel, Munition, Treibstoff, Transportmittel, die Anmietung von Zivilfahrzeugen und ähnliches. Oft waren die Teilnehmer*innen der Freiwilligenbataillone besser bewaffnet und ausgerüstet als die Soldaten der staatlichen Armee. Diese Bataillone bewiesen ein hohes Maß an Solidarität und Selbstorganisation und übernahmen faktisch die staatlichen Aufgaben der Territorialverteidigung, so dass die (damals schlecht ausgerüstete) Armee in der Lage war, dem Feind erfolgreich zu widerstehen.
Die von den pro-russischen Kräften kontrollierten Gebiete begannen rasch zu schrumpfen. Dann griff die reguläre russische Armee ein.
Wir können drei wichtige Zeitpunkte hervorheben:
1) Das ukrainische Militär realisierte, dass Waffen, Freiwillige und Militärspezialist*innen aus Russland kamen. Daher begannen sie am 12. Juli 2014 eine Operation an der ukrainisch-russischen Grenze. Während des Vormarsches wurde das ukrainische Militär jedoch von russischer Artillerie angegriffen und die Operation scheiterte. Die Streitkräfte erlitten schwere Verluste. 2) Die ukrainischen Streitkräfte versuchten Donezk zu besetzen. Bei ihrem Vormarsch wurden sie in der Nähe von Ilowaisk von regulären russischen Truppen umzingelt. Bekannte von uns, die einem der Freiwilligenbataillone angehörten, wurden ebenfalls gefangen genommen. Sie erlebten das russische Militär aus erster Hand. Nach drei Monaten konnten sie im Rahmen eines Kriegsgefangenenaustauschs zurückkehren. 3) Die ukrainische Armee kontrollierte die Stadt Debaltseve, die über einen großen Eisenbahnknotenpunkt verfügte. Dadurch wurde die direkte Verbindungsstraße zwischen Donezk und Lugansk unterbrochen. Am Vorabend der Verhandlungen zwischen Poroschenka (dem damaligen Präsidenten der Ukraine) und Putin, die einen langfristigen Waffenstillstand einleiten sollten, wurden ukrainische Stellungen von Einheiten angegriffen, die von russischen Truppen unterstützt wurden. Die ukrainische Armee wurde erneut eingekesselt und erlitt schwere Verluste.
Im Moment (Februar 2022) haben sich die Parteien auf einen Waffenstillstand und einen bedingten ›Waffenstillstand‹ geeinigt, der trotz ständiger Verstöße eingehalten wird. Jeden Monat sterben mehrere Menschen.
Russland bestreitet die Anwesenheit regulärer russischer Truppen und die Lieferung von Waffen in Gebiete, die nicht unter der Kontrolle der ukrainischen Behörden stehen. Die gefangen genommenen russischen Soldat*innen behaupten, sie seien für eine Übung in Alarmbereitschaft versetzt worden und hätten erst bei ihrer Ankunft am Zielort gemerkt, dass sie sich mitten im Krieg in der Ukraine befanden. Bevor sie die Grenze überquerten, entfernten sie die Symbole der russischen Armee, so wie es ihre Kolleg*innen auf der Krim taten. In Russland haben Journalist*innen Friedhöfe von gefallenen Soldat*innen gefunden, auf denen allerdings alle Informationen über ihren Tod fehlen: Die Grabinschriften auf den Grabsteinen geben als Todesdatum nur das Jahr 2014 an.
Unterstützer*innen der nicht anerkannten Republiken
Auch die ideologische Basis der Maidan-Gegner*innen war vielfältig. Die wichtigsten gemeinsamen Überzeugungen waren die Ablehnung der Gewalt gegen die Polizei und die Ablehnung der Ausschreitungen in Kiew. Menschen, die mit russischen Kulturerzählungen, Filmen und Musik aufgewachsen sind, hatten Angst vor der Zerstörung der russischen Sprache. Anhänger*innen der UdSSR und Bewunderer*innen ihres Sieges im Zweiten Weltkrieg glaubten, dass die Ukraine mit Russland verbündet sein sollte, und waren unglücklich über den Aufstieg radikaler Nationalist*innen. Die Anhänger*innen des Russischen Kaiserreiches sahen in den Maidan-Protesten eine Bedrohung des russischen Reichsgebietes. Die Vorstellungen dieser Verbündeten lassen sich anhand dieses Fotos erklären, das die Flaggen der UdSSR, des Russischen Kaiserreichs und das St. Georgs-Band (als Symbol für den Sieg im Zweiten Weltkrieg) zeigt. Wir könnten sie als autoritäre Konservative bezeichnen, als Verfechter der alten Ordnung.
Die pro-russische Seite bestand aus Angehörigen der Polizei, der Wirtschaft, der Politik und aus dem Militär, die mit Russland sympathisierten; gewöhnlichen Bürger*innen, die durch Fake News verängstigt waren; verschiedenen ultrarechten Einzelpersonen, darunter russische Patriot*innen und verschiedene Arten von Monarchist*innen; pro-russischen Imperialist*innen; aus der Task-Force-Gruppe ›Rusich‹ und der ›Gruppe Wagner‹. Ebenfalls darunter: der berüchtigte Neonazi Alexei Milchakov, der kürzlich verstorbene Egor Prosvirnin, der Gründer des chauvinistischen russisch-nationalistischen Medienprojekts ›Sputnik und Pogrom‹, und viele andere. Es gab auch autoritäre Linke, die die UdSSR und ihren Sieg im Zweiten Weltkrieg feierten.
Der Aufstieg der extremen Rechten in der Ukraine
Wie wir beschrieben haben, gelang es der Rechten, während des Maidan Sympathien zu gewinnen, indem sie Kampfeinheiten organisierte und bereit war, der Berkut physisch entgegenzutreten. Die Anwesenheit von Militärwaffen ermöglichte es ihnen, ihre Unabhängigkeit zu bewahren und andere zu zwingen, mit ihnen zu rechnen. Obwohl sie offen faschistische Symbole wie Hakenkreuze, Wolfsangeln, keltische Kreuze und SS-Logos verwendeten, war es schwierig, sie zu diskreditieren, da die Notwendigkeit, die Kräfte der Janukowitsch-Regierung zu bekämpfen, viele Ukrainer*innen zur Zusammenarbeit mit ihnen veranlasste.
Nach dem Maidan unterdrückte der rechte Flügel aktiv die Kundgebungen der pro-russischen Kräfte. Zu Beginn der Militäroperationen begannen sie, Freiwilligenbataillone zu bilden. Eines der bekanntesten ist das Bataillon ›Asow‹. Zu Beginn bestand es aus 70 Kämpfern; heute ist es ein Regiment mit 800 Soldat*innen, das über eigene gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie, eine Panzerkompanie und ein eigenes dem NATO-Standard entsprechendes Projekt, die Unteroffiziersschule, verfügt. Das Asow-Bataillon ist eine der kampfstärksten Einheiten der ukrainischen Armee. Es gab auch andere faschistische militärische Formationen wie die ukrainische Freiwilligeneinheit ›Rechter Sektor‹ und die ›Organisation Ukrainischer Nationalisten‹, die jedoch weniger bekannt sind.
Folglich erlangte die ukrainische Rechte in den russischen Medien einen schlechten Ruf. Aber viele in der Ukraine betrachteten das, was in Russland verhasst war, als ein Symbol des Kampfes der Ukraine. So wurde beispielsweise der Name des Nationalisten Stepan Bandera, der in Russland als Nazi-Kollaborateur gilt, von den Demonstrant*innen aktiv adaptiert um Russland zu verspotten. Einige nannten sich Judeo-Banderaner, um Anhänger*innen von in Russland verbreiteten Verschwörungsideologien über entweder Jüd*innen oder Anhänger*innen von Bandera, die sie beide jeweils für die Maidan-Proteste verantwortlich machten zu trollen.
Mit der Zeit geriet das Trollen außer Kontrolle. Rechtsextreme trugen offen Nazi-Symbole; gewöhnliche Unterstützer*innen des Maidan behaupteten, sie seien selbst Banderaner, die russische Babys essen, und erstellten entsprechende Memes. Die Rechtsextremen fanden ihren Weg in den Mainstream: Sie wurden zu Fernsehsendungen und anderen medialen Plattformen eingeladen, in denen sie als Patriot*innen und Nationalist*innen dargestellt wurden. Liberale Unterstützer*innen des Maidan stellten sich auf ihre Seite und glaubten, dass die Nazis ein von den russischen Medien erfundener Schwindel seien. In den Jahren 2014 bis 2016 wurde jede*r, der bereit war zu kämpfen, willkommen geheißen, egal ob es sich um einen Nazi, einen Anarchisten, einen Kopf des organisierten Verbrechens oder eine unehrliche Politikerin handelte.
Der Aufstieg der extremen Rechten ist darauf zurückzuführen, dass sie in kritischen Situationen besser organisiert waren und anderen Rebell*innen wirksame Kampfmethoden vorschlagen konnten. Etwas Ähnliches leisteten die Anarchist*innen in Belarus, wo es ihnen ebenfalls gelang, die Sympathie der Öffentlichkeit zu gewinnen, allerdings nicht in einem so bedeutenden Ausmaß wie die Rechtsextremen in der Ukraine.
2017, nachdem der Waffenstillstand in Kraft getreten war und der Bedarf an radikalen Kämpfer*innen zurückging, haben der SBU (Inlandsgeheimdienst der Ukraine) und die Regierung die rechte Bewegung kooptiert und jeden inhaftiert oder neutralisiert, der eine ›systemfeindliche‹ oder unabhängige Perspektive für die Entwicklung der rechten Bewegung vertrat – darunter Oleksandr Muzychko, Oleg Muzhchil, Yaroslav Babich und andere.
Heute ist sie immer noch eine große Bewegung, aber ihre Popularität ist vergleichsweise gering, und ihre Führer sind mit dem Geheimdienst, der Polizei und der Politik verbunden; eine wirklich unabhängige politische Kraft stellen sie nicht dar. Im demokratischen Lager wird das Problem der Rechtsextremen immer häufiger diskutiert, und mensch entwickelt ein Verständnis für die Symbole und Organisationen, mit denen mensch es zu tun hat, anstatt die Bedenken stillschweigend zu verdrängen.
Die Aktivitäten von Anarchist*innen und Antifaschist*innen während des Krieges
Mit dem Ausbruch der militärischen Handlungen kam es zu einer Spaltung zwischen jenen, die pro-ukrainisch sind und den Anhänger*innen der so genannten DNR / LNR (›Volksrepublik Donezk‹ und ›Volksrepublik Lugansk‹).
In den ersten Kriegsmonaten herrschte in der Punk-Szene eine weit verbreitete »Nein zum Krieg«-Stimmung, die jedoch nicht lange anhielt. Analysieren wir das pro-ukrainische und das pro-russische Lager.
Pro-Ukraine
In Ermangelung einer schlagkräftigen Organisation zogen die ersten anarchistischen und antifaschistischen Freiwilligen als Einzelkämpfer*innen, Militärsanitäter*innen und Freiwillige in den Krieg. Sie versuchten, eine eigene Truppe zu bilden, was jedoch aufgrund mangelnder Erfahrungen und Ressourcen nicht gelang. Einige schlossen sich sogar dem Asow-Bataillon und der OUN (›Organisation Ukrainischer Nationalisten‹) an. Die Gründe dafür waren banal: Sie schlossen sich den Truppen an, die am leichtesten zugänglich waren. Infolgedessen wandten sich einige Menschen rechter Politik zu.
Menschen, die nicht an den Kämpfen teilnahmen, sammelten Geld für die Behandlung von Verletzten im Osten und für den Bau eines Luftschutzbunkers in einem Kindergarten in der Nähe der Front. Es gab auch ein besetztes Haus namens ›Autonomie‹ in Charkiw, ein offen anarchistisches soziales und kulturelles Zentrum, das sich zu dieser Zeit auf die Unterstützung der Flüchtenden konzentrierte. Sie stellten Wohnungen und einen Umsonstladen zur Verfügung, berieten die Neuankömmlinge, verwiesen sie auf Ressourcen und führten Bildungsaktivitäten durch. Darüber hinaus wurde das Zentrum zu einem Ort für theoretische Diskussionen. Leider wurde das Projekt im Jahr 2018 eingestellt.
Alle diese Aktionen waren Einzelinitiativen bestimmter Personen und Gruppen. Sie erfolgten nicht im Rahmen einer gemeinsamen Strategie.
Eines der bemerkenswertesten Phänomene dieser Zeit war eine ehemals große radikal-nationalistische Organisation, ›Autonomnyi Opir‹ (Autonomer Widerstand). Sie begann 2012 sich nach links zu orientieren; 2014 war sie so weit nach links gerückt, dass sich einzelne Mitglieder sogar als ›Anarchist*innen‹ bezeichneten. Sie bezeichneten ihren Nationalismus als Kampf für ›Freiheit‹ und als Gegengewicht zum russischen Nationalismus, wobei sie die zapatistische Bewegung und die Kurd*innen als Vorbilder anführten. Im Vergleich zu den anderen Projekten in der ukrainischen Gesellschaft galten sie als die am nächsten stehenden Verbündeten, weshalb einige Anarchist*innen mit ihnen zusammenarbeiteten, während andere diese Zusammenarbeit und die Organisation selbst kritisierten. Die Mitglieder der AO beteiligten sich auch aktiv an den Freiwilligenbataillonen und versuchten, die Idee des ›Antiimperialismus‹ unter den Militärs zu verbreiten. Sie setzten sich auch für das Recht der Frauen ein, am Krieg teilzunehmen; weibliche Mitglieder der AO nahmen an den Kampfhandlungen teil. Die AO unterstützte Ausbildungszentren bei der Ausbildung von Kämpfer*innen und Ärzt*innen, meldete sich freiwillig zur Armee und organisierte das Sozialzentrum ›Zitadelle‹ in Lemberg, wo Flüchtende untergebracht wurden.
Pro-Russland
Der moderne russische Imperialismus beruht auf der Auffassung, dass Russland der Nachfolger der UdSSR ist – nicht in Bezug auf sein politisches System, sondern aus territorialen Gesichtspunkten. Das Putin-Regime betrachtet den sowjetischen Sieg im Zweiten Weltkrieg nicht als ideologischen Sieg über den Nationalsozialismus, sondern als einen Sieg über Europa, der die Stärke Russlands zeigt. In Russland und den von ihm kontrollierten Ländern hat die Bevölkerung weniger Zugang zu Informationen, so dass sich Putins Propagandamaschine nicht die Mühe macht, ein komplexes politisches Konzept zu erstellen. Das Narrativ lautet im Wesentlichen wie folgt: Die USA und Europa hatten Angst vor der starken UdSSR, Russland ist der Nachfolger der UdSSR und das gesamte Gebiet der ehemaligen UdSSR ist russisch, russische Panzer sind in Berlin eingefahren, was bedeutet: »Wir können es wieder tun« und wir werden der NATO zeigen, wer hier der Stärkste ist; der Grund, warum Europa ›verrottet‹, ist, dass all die Schwulen und Einwanderer*innen dort außer Kontrolle geraten sind.
Die ideologische Grundlage für die Aufrechterhaltung einer pro-russischen Position unter den Linken war das Erbe der UdSSR und ihr Sieg im Zweiten Weltkrieg. Da Russland behauptet, die Regierung in Kiew sei von Nazis und der Junta übernommen worden, bezeichneten sich die Gegner*innen des Maidan als Kämpfer*innen gegen den Faschismus und die Kiewer Junta. Dieses Branding weckte Sympathien bei der autoritären Linken – in der Ukraine beispielsweise bei der Organisation ›Borotba‹. Während der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2014 nahmen sie zunächst eine loyale und später eine pro-russische Position ein. In Odessa wurden am 2. Mai 2014 mehrere ihrer Aktivist*innen bei Straßenkämpfen getötet. Einige Mitglieder dieser Gruppe waren auch an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Lugansk beteiligt, und einige von ihnen starben dort.
›Borotba‹ beschrieb ihre Beweggründe als den Wunsch, gegen den Faschismus zu kämpfen. Sie forderten die europäische Linke auf, sich mit der ›Volksrepublik Donezk‹ und der ›Volksrepublik Lugansk‹ zu solidarisieren. Durch eine gehackte e-Mail von Wladislaw Surkow (Putins politischem Strategen) wurde aufgedeckt, dass die Mitglieder von Borotba von Surkows Leuten finanziert und beaufsichtigt wurden.
Die autoritären Kommunist*innen Russlands haben sich die separatistischen Republiken aus ähnlichen Gründen auf die Fahnen geschrieben.
Die Anwesenheit von Rechtsextremen auf dem Maidan motivierte auch ansonsten apolitische Antifaschist*innen dazu, die ›DNR‹ und ›LNR‹ zu unterstützen. Einige von ihnen nahmen wiederum an den Kämpfen in den Regionen Donezk und Lugansk teil, und einige von ihnen starben dort.
Unter den ukrainischen Antifaschist*innen gab es subkulturell geprägte, ›apolitische‹ Antifaschist*innen, die gegen den Faschismus waren, »weil unsere Großväter dagegen gekämpft haben«. Ihr Verständnis von Faschismus war unscharf: Sie selbst waren oft politisch inkohärent, sexistisch, homophob, russische Patriot*innen und dergleichen.
Die Idee, die so genannten Republiken zu unterstützen, fand in der europäischen Linken breiten Rückhalt. Zu den bekanntesten Unterstützer*innen gehörten die italienische Rockband ›Banda Bassotti‹ und die deutsche Partei Die Linke. Neben der Spendensammlung ging Banda Bassotti auch auf Tour nach ›Novorossia‹. Als Mitglied des Europäischen Parlaments unterstützte Die Linke das pro-russische Narrativ auf jede erdenkliche Weise und arrangierte Videokonferenzen mit pro-russischen Aktivist*innen, die auf die Krim und in die nicht anerkannten Republiken reisten. Die jüngeren Mitglieder der Partei Die Linke sowie die Rosa-Luxemburg-Stiftung (die Stiftung der Partei Die Linke) betonen, dass diese Position nicht von allen Mitgliedern geteilt wird – sie wird jedoch von den prominentesten Mitgliedern der Partei, wie Sahra Wagenknecht und Sevim Dağdelen, verbreitet.
Die pro-russische Position fand bei den Anarchist*innen keine Zustimmung. Unter den individuellen Statements war die Position von Jeff Monson, einem Mixed-Martial-Arts-Kämpfer aus den USA, der Tätowierungen mit anarchistischen Symbolen hat, am auffälligsten. Er betrachtete sich früher als Anarchist, arbeitet in Russland nun jedoch offen für die Regierungspartei Einiges Russland und ist Abgeordneter in der Duma.
Um das pro-russische ›linke‹ Lager zu verstehen, sollten wir uns die Arbeit der russischen Geheimdienste und die Folgen der ideologischen Inkompetenz ansehen. Nach der Besetzung der Krim traten Mitarbeiter*innen des russischen FSB an lokale Antifaschist*innen und Anarchist*innen heran und boten ihnen an, ihre Aktivitäten fortzusetzen, schlugen aber vor, dass sie fortan die Idee, dass die Krim ein Teil Russlands sein sollte, in ihre Agitation einbeziehen sollten. In der Ukraine gibt es kleine Informations- und Aktivistengruppen, die sich als antifaschistisch positionieren, dabei aber im Wesentlichen eine pro-russische Position vertreten; viele Menschen verdächtigen sie, für Russland zu arbeiten. Ihr Einfluss in der Ukraine ist minimal, aber ihre Mitglieder dienen russischen Agent*innen als ›Whistleblower‹.
Es gibt auch ›Kooperationsangebote‹ der russischen Botschaft und von pro-russischen Parlamentsmitgliedern wie Ilja Kiva. Sie versuchen, die Ablehnung von Nazis wie dem Asow-Bataillon auszunutzen und bieten an, Menschen zu bezahlen, damit sie ihre Haltung zu Russland ändern. Bislang hat nur Rita Bondar offen zugegeben, auf diese Weise Geld erhalten zu haben. Früher schrieb sie für linke und anarchistische Medien, aber aus Geldnot schrieb sie unter einem Pseudonym für Medienplattformen, die mit dem russischen Propagandisten Dmitri Kiselev verbunden sind.
In Russland selbst erleben wir die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung und den Aufstieg autoritärer Kommunist*innen, die die Anarchist*innen aus der antifaschistischen Subkultur verdrängen. Einer der bezeichnendsten Momente der letzten Zeit ist die Organisation eines antifaschistischen Turniers im Jahr 2021 zum Gedenken an »den sowjetischen Soldaten«.
Droht ein ausgewachsener Krieg mit Russland? Ein anarchistischer Standpunkt
Vor etwa zehn Jahren wäre die Vorstellung eines ausgewachsenen Krieges in Europa absurd gewesen, denn die säkularen europäischen Staaten des 21. Jahrhunderts versuchen, ihren ›Humanismus‹ zu betonen und ihre Verbrechen zu verschleiern. Wenn sie sich an militärischen Operationen beteiligen, tun sie dies irgendwo weit weg von Europa. Aber was Russland betrifft, so haben wir die Besatzung der Krim und die anschließenden gefälschten Referenden, den Krieg im Donbas und den Flugzeugabsturz von MH17 miterlebt. Die Ukraine ist ständig mit Hackerangriffen und Bombendrohungen konfrontiert, nicht nur in staatlichen Gebäuden, sondern auch in Schulen und Kindergärten.
In Belarus erklärte sich Lukaschenko im Jahr 2020 mit einem Ergebnis von 80 % der Stimmen dreist zum Sieger der Wahlen. Der Aufstand in Belarus führte sogar zu einem Streik der belarussischen Propagandisten (z.B. in Form der Fernsehsprecher*innen). Doch nach der Landung russischer FSB-Flugzeuge änderte sich die Lage dramatisch und der belarussischen Regierung gelang es, die Proteste gewaltsam zu unterdrücken.
Ein ähnliches Szenario spielte sich in Kasachstan ab, doch wurden dort die regulären Armeen Russlands, Belarus’, Armeniens und Kirgisistans im Rahmen der ›Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit‹ (Collective Security Treaty Organization) hinzugezogen, um das Regime bei der Niederschlagung des Aufstands zu unterstützen.
Russische Geheimdienste lockten Flüchtende aus Syrien nach Belarus, um einen Konflikt an der Grenze zur Europäischen Union zu schüren. Es wurde auch eine Gruppe des russischen FSB aufgedeckt, die politische Morde mit chemischen Waffen – dem bereits bekannten ›Nowitschok‹ – verübte. Neben den bekannten Fällen von Skripal und Nawalny haben sie auch andere politische Persönlichkeiten in Russland angegriffen und getötet. Putins Regime antwortet auf alle Anschuldigungen mit den Worten: »Wir sind es nicht, ihr lügt alle«. In der Zwischenzeit hat Putin selbst vor einem halben Jahr einen Artikel geschrieben, in dem er behauptet, dass Russ*innen und Ukrainer*innen eine Nation sind und unter einem Dach leben sollten. Wladislaw Surkow (ein politischer Stratege, der die russische Staatspolitik gestaltet und mit den Marionettenregierungen in der so genannten DNR und LNR in Verbindung steht) veröffentlichte einen Artikel, in dem er erklärte, dass »das Imperium expandieren muss, da es sonst untergehen wird«. In Russland, Belarus und Kasachstan wurde die Protestbewegung in den letzten zwei Jahren brutal unterdrückt und unabhängige und oppositionelle Medien wurden zerstört. Wir empfehlen, hier mehr über die Aktivitäten Russlands zu lesen.
Alles in allem ist die Wahrscheinlichkeit eines ausgewachsenen Krieges hoch und in diesem Jahr etwas höher als im letzten Jahr. Selbst die schärfsten Analyst*innen dürften kaum in der Lage sein, den genauen Zeitpunkt des Kriegsbeginns vorherzusagen. Vielleicht würde eine Revolution in Russland die Spannungen in der Region abbauen, aber wie wir oben geschrieben haben, ist die Protestbewegung dort erstickt worden.
Die Anarchist*innen in der Ukraine, in Belarus und in Russland unterstützen meist direkt oder implizit die ukrainische Unabhängigkeit. Das liegt daran, dass die Ukraine trotz aller nationalen Stimmungsmache, Korruption und einer großen Zahl Nazis im Vergleich zu Russland und den von ihm kontrollierten Ländern wie eine Insel der Freiheit wirkt. Dieses Land bewahrt solche im post-sowjetischen Raum ›einzigartigen Phänomene‹ wie die Abwählbarkeit des Präsidenten, ein Parlament, das mehr als nur nominelle Macht hat, und das Recht, sich friedlich zu versammeln; in einigen Fällen, wenn die Öffentlichkeit gerade darauf achtet, funktionieren die Gerichte manchmal sogar gemäß ihrem erklärten Protokoll. Zu sagen, dass dies besser ist als die Situation in Russland, ist nichts Neues. Wie Bakunin schrieb: »Wir sind fest davon überzeugt, dass die unvollkommenste Republik tausendmal besser ist als die aufgeklärteste Monarchie.«
In der Ukraine gibt es viele Probleme, die aber am ehesten ohne die Einmischung Russlands gelöst werden können.
Ist es sinnvoll, im Falle einer Invasion gegen die russischen Truppen zu kämpfen? Wir glauben, dass die Antwort darauf Ja lautet. Zu den Optionen, die ukrainische Anarchist*innen derzeit in Betracht ziehen, gehören der Beitritt zu den Streitkräften der Ukraine, die Beteiligung an der Territorialverteidigung, der Aufbau von Guerilla Einheiten und die Bereitstellung von zivilen Freiwilligen.
Die Ukraine steht jetzt an vorderster Front im Kampf gegen den russischen Imperialismus. Russland hat langfristige Pläne, die Demokratie in Europa zu zerstören. Wir wissen, dass dieser Gefahr in Europa bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Aber wenn mensch die Äußerungen hochrangiger Politiker*innen, rechtsextremer Organisationen und autoritärer Kommunist*innen verfolgt, wird mensch mit der Zeit feststellen, dass es in Europa bereits ein großes Spionagenetz gibt. So erhielten beispielsweise einige Spitzenbeamte nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt einen Posten in einer russischen Ölgesellschaft (Gerhard Schröder, François Fillon).
Wir halten Slogans wie »Nein zum Krieg« oder »Der Krieg der Imperien« für unwirksam und populistisch. Die anarchistische Bewegung hat keinen Einfluss auf den Prozess, daher ändern solche Aussagen überhaupt nichts.
Unsere Position basiert auf der Tatsache, dass wir nicht weglaufen wollen, dass wir keine Geiseln sein wollen und dass wir nicht kampflos getötet werden wollen. Am Beispiel Afghanistans kann mensch nachvollziehen, was »Nein zum Krieg« bedeutet: Als die Taliban vorrückten, flohen die Menschen massenhaft, starben im Chaos auf den Flughäfen, und die Zurückgebliebenen wurden verfolgt. Dies beschreibt, was auf der Krim geschieht, und mensch kann sich vorstellen, was nach dem Einmarsch Russlands in anderen Regionen der Ukraine geschehen wird.
Was die Haltung gegenüber der NATO betrifft, so sind die Autor*innen dieses Textes in zwei Standpunkte gespalten. Einige von uns haben eine positive Herangehensweise zu dieser Problematik. Es ist offensichtlich, dass die Ukraine Russland nicht allein entgegentreten kann. Selbst wenn mensch die große Freiwilligenbewegung berücksichtigt, werden moderne Technologien und Waffen benötigt. Abgesehen von der NATO hat die Ukraine keine anderen Verbündeten, die ihr dabei helfen könnten.
Hier wollen wir die Geschichte von Nord-Ost Syrien / Rojava in Erinnerung rufen. Die Einheimischen waren gezwungen, mit der NATO gegen ISIS zu kooperieren – die einzige Alternative war zu fliehen oder getötet zu werden. Wir wissen sehr wohl, dass die Unterstützung durch die NATO sehr schnell verschwinden kann, wenn der Westen neue Interessen entwickelt oder es schafft, einige Kompromisse mit Putin auszuhandeln. Selbst jetzt ist die Bewegung dort gezwungen, mit dem Assad-Regime zu kooperieren, weil sie wissen, dass sie kaum eine Alternative haben.
Eine mögliche russische Invasion zwingt die ukrainische Bevölkerung dazu, nach Verbündeten im Kampf gegen Moskau zu suchen. Nicht in den sozialen Medien, sondern in der realen Welt. Die Anarchist*innen verfügen weder in der Ukraine noch anderswo über ausreichende Ressourcen, um effektiv auf die Invasion des Putin-Regimes zu reagieren. Deshalb muss mensch darüber nachdenken, Unterstützung von der NATO anzunehmen.
Der andere Standpunkt, der in unserer Redaktionsgruppe vertreten wird: das sowohl die NATO als auch die EU durch die Stärkung ihres Einflusses in der Ukraine das derzeitige System des ›wilden Kapitalismus‹ in dem Land zementieren und das Potenzial für eine soziale Revolution noch weniger realisierbar machen werden. Im System des globalen Kapitalismus, dessen Flaggschiff die USA als Anführer der NATO ist, wird der Ukraine der Platz eines bescheidenen Grenzlandes zugewiesen: ein Lieferant von billigen Arbeitskräften und Ressourcen. Daher ist es für die ukrainische Gesellschaft wichtig, die Notwendigkeit der Unabhängigkeit von allen imperialistischen Kräften zu erkennen. Im Kontext der Verteidigungsfähigkeit des Landes sollte der Schwerpunkt nicht auf der Bedeutung der NATO-Technologie und der Unterstützung für die reguläre Armee liegen, sondern auf dem Potenzial der Gesellschaft für den Guerillawiderstand an der Basis.
Wir betrachten diesen Krieg in erster Linie als Krieg gegen Putin und die von ihm kontrollierten Regime. Neben der banalen Motivation, nicht unter einer Diktatur zu leben, sehen wir das Potenzial der ukrainischen Gesellschaft, die eine der aktivsten, unabhängigsten und rebellischsten in der Region ist. Die lange Geschichte des Widerstands des Bevölkerung in den letzten dreißig Jahren ist ein solider Beweis dafür. Das gibt uns Hoffnung, dass die Konzepte der direkten Demokratie hier auf fruchtbaren Boden stoßen.
Die aktuelle Situation der Anarchist*innen in der Ukraine und neue Herausforderungen
Die Außenseiterinnenposition während des Maidan und des Krieges hatte eine demoralisierende Wirkung auf die Bewegung. Die Öffentlichkeitsarbeit wurde erschwert, da die russische Propaganda das Wort ›Antifaschismus‹ monopolisierte. Aufgrund der Präsenz der Symbole der UdSSR unter den pro-russischen Aktivist*innen war die Einstellung gegenüber dem Wort ›Kommunismus‹ äußerst negativ, so dass selbst die Kombination ›Anarchokommunismus‹ negativ wahrgenommen wurde. Die Stellungnahmen gegen die pro-ukrainische Ultra-Rechte warfen in den Augen der gewöhnlichen Leute einen Schatten des Zweifels auf die Anarchist*innen. Es gab eine unausgesprochene Übereinkunft, dass die Ultrarechten keine Anarchist*innen und Antifaschist*innen angreifen würden, wenn sie ihre Symbole nicht bei Kundgebungen und Ähnlichem zeigten. Die Rechten hatten eine Menge Waffen in der Hand. Diese Situation schuf ein Gefühl der Frustration; die Polizei funktionierte nicht gut, so dass mensch leicht getötet werden konnte, ohne dass dies Konsequenzen hatte. Im Jahr 2015 wurde beispielsweise der pro-russische Aktivist Oles Buzina getötet.
All dies ermutigte die Anarchist*innen, das Thema ernster zu nehmen.
Ab 2016 begann sich ein radikaler Untergrund zu entwickeln; Nachrichten über radikale Aktionen erschienen immer häufiger. Radikale anarchistische Publikationen erschienen, die erklärten, wie mensch Waffen kauft und Depots anlegt, im Gegensatz zu den älteren Publikationen, die nur auf Molotow-Cocktails beschränkt waren.
Im anarchistischen Milieu ist es mittlerweile üblich, legale Waffen zu besitzen. Videos von anarchistischen Trainingscamps, in denen Schusswaffen benutzt wurden, tauchten auf. Der Widerhall dieser Veränderungen erreichte Russland und Belarus. In Russland löste der FSB ein Netzwerk anarchistischer Gruppen auf, die über legale Waffen verfügten und Airsoft spielten. Die Verhafteten wurden mit Strom gefoltert, um sie zu einem Terrorismus-Geständnis zu zwingen, und zu Haftstrafen zwischen 6 und 18 Jahren verurteilt. In Belarus wurde während der Proteste 2020 eine rebellische Gruppe von Anarchisten unter dem Namen “Schwarze Flagge” festgenommen, als sie versuchte, die belarussisch-ukrainische Grenze zu überqueren. Sie hatten eine Schusswaffe und eine Granate bei sich; laut der Aussage von Igor Olinevich hatte er die Waffe in Kiew gekauft.
Auch der überholte Ansatz der wirtschaftlichen Vorstellungen der Anarchist*innen hat sich geändert: Während früher die meisten in schlecht bezahlten Jobs arbeiteten, die »näher an den Ausgebeuteten« waren, versuchen jetzt viele, einen gut bezahlten Job zu finden, meist im IT-Sektor.
Antifaschistische Gruppen auf der Straße haben ihre Aktivitäten wieder aufgenommen und führen Vergeltungsaktionen bei Nazi-Angriffen durch. Unter anderem veranstalteten sie das antifaschistische Kampf-Turnier ›No Surrender‹ und veröffentlichten einen Dokumentarfilm mit dem Titel ›Hoods‹, der über die Entstehung der Kiewer Antifa-Gruppe berichtet. (Englische Untertitel sind verfügbar.)
Der Antifaschismus in der Ukraine ist eine wichtige Front, denn neben einer großen Zahl einheimischer ultrarechter Aktivist*innen sind viele berüchtigte Nazis aus Russland (darunter Sergej Korotkich und Alexej Levkin) und aus Europa (wie Denis ›White Rex‹ Kapustin) und sogar aus den USA (Robert Rando) hierher gezogen. Die Anarchist*innen beobachten die Aktivitäten der extremen Rechten genau.
Es gibt verschiedene aktive Gruppen (klassische Anarchist*innen, Queer-Anarchist*innen, Anarcho-Feminist*innen, Food Not Bombs, Öko-Initiativen usw.) sowie kleine Informationsplattformen. Kürzlich ist mit dem Telegramm-Channel @uantifa eine weitere politisch engagierte antifaschistische Informationsquelle online gegangen, die ihre Veröffentlichungen auch auf Englisch dupliziert.
Die Spannungen zwischen den Gruppen werden allmählich abgebaut, da es in letzter Zeit viele gemeinsame Aktionen und eine gemeinsame Beteiligung an sozialen Konflikten gegeben hat. Zu den wichtigsten gehören die Kampagne gegen die Abschiebung des belarussischen Anarchisten Aleksey Bolenkov (dem es gelang, einen Prozess gegen die ukrainischen Geheimdienste zu gewinnen und in der Ukraine zu bleiben) und die Verteidigung eines Kiewer Stadtteils (Podil) gegen Polizeirazzien und Angriffe der Ultrarechten.
Wir haben immer noch sehr wenig Einfluss auf die Gesellschaft im Großen und Ganzen. Das liegt vor allem daran, dass die Notwendigkeit von Organisation und anarchistischen Strukturen lange Zeit ignoriert oder geleugnet wurde. (In seinen Memoiren beklagte auch Nestor Makhno dieses Manko nach der Niederlage der Anarchist*innen). Anarchistische Gruppen wurden sehr schnell durch den SBU [Inlandsgeheimdienst der Ukraine] oder die extreme Rechte zerschlagen.
Wir sind aus der Stagnation herausgekommen und entwickeln uns weiter, und deshalb rechnen wir mit neuen Repressionen und neuen Versuchen des SBU, die Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen.
Im Moment kann mensch unsere Position als die radikalsten Ansätze und Ansichten im demokratischen Lager bezeichnen. Wenn Liberale es vorziehen, sich im Falle eines Angriffs durch die Polizei oder die extreme Rechte bei der Polizei zu beschweren, bieten Anarchist*innen an, mit anderen Gruppen zusammenzuarbeiten, die unter einem ähnlichen Problem leiden, und zur Verteidigung von Strukturen oder Veranstaltungen zu kommen.
Die Anarchist*innen versuchen aktuell, horizontale Bindungen an der Basis der Gesellschaft zu schaffen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, damit die Gemeinschaften ihre eigenen Bedürfnisse, einschließlich der Selbstverteidigung, erfüllen können. Dies unterscheidet sich erheblich von der üblichen politischen Praxis in der Ukraine, in der sich oft um Organisationen, Politiker*innen oder die Polizei geschart wird. Organisationen und Politiker*innen werden oft bestochen, und die Menschen, die sich um sie gruppiert haben, werden getäuscht. Die Polizei kann womöglich mal eine LGBT-Veranstaltungen schützen, wird sich aber sicher gegen die selben Aktivist*innen wenden, wenn diese gegen Polizeibrutalität demonstrieren. Das ist der Grund, warum wir in unseren Ideen und Ansätzen Potenzial sehen – wenn es allerdings zum Krieg kommt, wird die Hauptsache wieder sein, an einem bewaffneten Konflikt teilnehmen zu können.
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2022-02-15